Schorlemmer: "'68 wurde Schlüsseljahr meines Lebens"
1968 - Ein Epochenjahr wird 50. Die Erinnerungen und die Assoziationen gehen in alle möglichen Richtungen: Protest, Revolte, Rebellion, Bewegung, Aufbruch. Und das Gegenteil: Kritik, Unbehagen, Beklemmung. Die Achtundsechziger - sie polarisieren bis heute. Wir haben Künstler, Schriftsteller, Zeitgenossen aufgerufen, uns ihre Gedanken aufzuschreiben. Das haben bisher gemacht: Arno Geiger, Sibylle Lewitscharoff, Franziska Augstein und Nora Gomringer. Heute kommt der 1944 geborene evangelische Theologe, Bürgerrechtler und Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, Friedrich Schorlemmer zu Wort. Er wurde zum prominenten Akteur der Friedensbewegung in der DDR. Das Jahr 1968 ist Friedrich Schorlemmer unvergessen.
Kaum etwas macht deutlicher, wie weit wir auseinander lebten und wie tief wir voneinander getrennt waren als das 68er-Erlebnis und der Rückblick darauf. Wir konnten das, was politisch in der Bundesrepublik geschah, allabendlich bei unserer "Republikflucht" per Westradio und West-Fernsehen wahrnehmen. 1968 vollzog sich im Wesentlichen im Lesen und im Miteinander-Diskutieren in kleinen inoffiziellen Foren etwa, in Wohnungen oder in den Studentengemeinden über das, was in der Tschechoslowakei in Gang gekommen war. Das war relevant für uns, das war aufregend, wenngleich wir politisch weit vom Geschehen leben mussten.
Wir hörten über Kurzwelle den deutschsprachigen tschechischen Rundfunk und wir saßen nächtens an unseren Schreibmaschinen. Die Texte, die irgendjemand, irgendwann, irgendwo rübergeschmuggelt hatte, schrieben wir mit sechs Durchschlägen ab und gaben sie weiter. Die sozialistische Emanzipationsidee schien reale Gestalt anzunehmen: mit Selbstentfaltung des Einzelnen, mit Meinungs-, Versammlungs- und Assoziationsfreiheit aller, mit Kampf gegen die Entfremdung in Leben und Arbeit. Das alles im Rückgriff auf den jungen Marx, dessen Schriften just in diesem Jahr 1968 erstmals käuflich wurden. Die SED rüstete auf - sowohl militärisch als auch mit ihren Sicherheitsorganen und in ihrer starren Ideologie. Die Herrschenden hatten panische Angst, dass Entspannung zur Aufweichung führen könne. "Keine ideologische Koexistenz" hieß die Parole.
Am 12. August 1968 reiste ich mit meiner Freundin nach Prag. Dort wollten wir uns verloben - in der Stadt der Freiheit! Wir erlebten in Prag Überwältigendes: Nächtliche Diskussionen, tausende und abertausende Menschen. Das Volk begab sich auf die Straße, um über die Zukunft des Landes zu reden. Arbeiter und Angestellte diskutierten mit den Funktionären, sie stellten sich dem Dialog, auch die Kommandeure der Kampfgruppen, ja sogar höhere Parteifunktionäre. Vor allen stand die Angst vor einem sowjetischen Eingreifen wie 1956 in Budapest, und deswegen sollte alles ohne Gewalt gehen. Wir trafen auf westdeutsche Studenten, Linke. Sie setzten in Prag ihr '68 vor Ort fort. Uns ignorierten sie spürbar. Ihr bekämpftes Gegenüber waren das westdeutsche Establishment und die Amerikaner in Vietnam. Sie wollten den "utopischen" Sozialismus. Wir aber hatten den "realen".
DDR-Bürger zu sein, war in östlichen Staaten wie auch gegenüber Westlern geradezu ein Makel - und Ulbricht die Hassfigur schlechthin. Wir erlebten, wie Zigtausende auf die Burg strömten, weil Tito zu Besuch gekommen war. Es war die Freiwilligkeit, es war der Veränderungswille, es war angespannte hoffnungsvolle Fröhlichkeit, und es war der Ernst, die politische Besonnenheit, die uns an den Tschechen faszinierte.
Am 20. August reisten wir zurück. Am 21. August weckte mein Vater mich mit dem unvergesslichen Schmerzsatz: "Friedrich steh auf, die Russen sind in Prag einmarschiert." Was hatte mein Vater da gesagt? Steh auf! Ich aber war gelähmt. Die DDR-Zeitungen waren voll von organisierten Zustimmungsorgien. Dagegen unsere Scham und ohnmächtige Wut, dass die Nationale Volksarmee dabei gewesen war.
Im anderen Teil Deutschlands betrieben Bahr und Brandt Entspannungspolitik, trotz der harschen Töne aus Moskau und aus Ost-Berlin, trotz des Einmarsches und trotz der Niederschlagung des Prager Frühlings. Jeder Dialog innerhalb der DDR, auch zwischen den Marxisten oder führenden Partei- oder Universitätskreisen wurde strikt unterbunden. Wir hielten fest an den Träumen der Freiheit im Reich der Einmauerung. "Das Land ist still. Noch", sang Biermann. An dieses NOCH klammerte sich Hoffnung und Widerstand. Im Westen gab‘s schließlich keine Revolution - im Osten keine Reform. Und doch wurde 1968 zu einem Schlüsseljahr, Schlüsseljahr auch meines Lebens. Ich wurde, blieb und bleibe Sozialdemokrat in einer Partei, in der Gerechtigkeit, Freiheit sich die Hand geben oder - um es mit Willy Brandt zu sagen - um links und frei zu sein.