Premiere von "Lear": Über das Dunkle in der Seele des Menschen
Die Oper "Lear" des deutschen Komponisten Aribert Reimann ist die Vertonung des wohl blutrünstigsten Dramas von Shakespeare. Gut 45 Jahre nach seiner Uraufführung ist der Klassiker der Moderne zum ersten Mal in Hannover zu sehen.
Der Mensch steht im Mittelpunkt: Gewandet in einen ausladenden Hermelin-Umhang, eine große, schlicht gezackte Krone auf dem Kopf, steht Lear vor einem riesigen Quader aus Pappkartons. Der Plan, sein Reich unter seinen drei Töchtern aufzuteilen, geht schief. Während die beiden älteren ihre Liebe beteuern, schweigt die Jüngste - und wird verstoßen.
Lear, beeindruckend verkörpert von Bariton Michael Kupfer-Radecky, gerät in einen Strudel der Machtgelüste. Sein Kartonhaus beginnt einzustürzen, seinen Ruhestand hatte er sich anders vorgestellt. "Das ist ein sehr selbstbewusster Herrscher, der seine Kriege geführt hat und jetzt entscheidet: Ich will nicht mehr", erzählt Michael Kupfer-Radecky. "Er will sein Leben jetzt genießen. Deswegen feiert er mit seinen Soldaten, säuft, frisst, reißt Witze. Da verwickelt er sich in den Vorstellungen seiner Töchter, die sagen: Nee, das ist uns zu viel, das ist uns zu teuer."
"Lear" von Aribert Reimann: "Ein völlig unpolitisches Stück"
Verzweiflung, Wahnsinn, Raserei - Lear bekommt die Lage nicht mehr in den Griff. Monumental grollt, kreischt und wogt das Niedersächsische Staatsorchester, das in verstärkter Besetzung spielt. Zwei Harfen und eine ausladende Schlagwerkgruppe sitzen auf der Bühne, weil der Platz im Orchestergraben nicht ausreicht. Vom Chor singen nur die Männer - es geht vor allem um das Dunkle in der Seele des Menschen, erklärt Generalmusikdirektor Stephan Zilias: "Es ist ein Stück, was den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Es hat zum Beispiel mit Gesellschaftskritik überhaupt nichts zu tun. Ich vergleiche das manchmal mit 'Die Soldaten' von Bernd Alois Zimmermann, dem 'Lear' sehr viel verdankt. Das ist ein bisschen vorher entstanden, aber ein Stück, das Weltpolitik in den Mittelpunkt stellt. Davon gibt es in 'Lear' überhaupt nichts. Das ist ein völlig unpolitisches Stück."
Die Untiefen menschlichen Seins durchleben
Das Team um den britischen Regisseur Joe Hill-Gibbins spiegelt das Existenzielle eindringlich mit einem abstrakten Bühnenbild: ein Trümmerfeld aus Kartons am Boden, oben eine fast geometrisch wirkende Ebene aus Leuchtröhren, dann beginnt es, auch noch zu regnen. Auferstanden aus Ruinen erscheint Edgar, verstoßener Sohn von Lears Gefolgsmann Graf von Gloster: eine schwere Partie, die Countertenor Nils Wanderer mit Bravour meistert.
Von Sopranistin Angela Denoke als Tochter Goneril bis zu Robert Künzli als Glosters unehelicher Sohn Edmund - die Solisten ziehen einen in ihren Bann. Intensiv lässt das Niedersächsische Staatsorchester Hannover das Publikum die Untiefen menschlichen Seins durchleben. Die Oper aus den 1970er-Jahren hat diesmal auch mehr jüngeres Publikum neugierig gemacht. Das Urteil ist vorwiegend positiv: "Es ist ein gewaltiges Stück, eine gewaltige Inszenierung, überwiegend toll, fantastische Sänger", findet eine Zuschauerin. "Musikalisch fantastisch gemacht, ganz große Leistung vom Orchester und von dem Ensemble - und ein wunderbares Bühnenbild", meint eine andere Premierenbesucherin.