"Lear" an der Staatsoper Hannover: "Musik, die erschüttern kann"
Der deutsche Komponist Aribert Reimann brachte "König Lear", Shakespeares wohl blutrünstigtes Drama, 1978 als Avantgarde-Oper auf die Bühne. Nun ist sein "Lear" erstmals in Hannover zu sehen: Premiere war Sonnabend an der Staatsoper.
Der musikalische Eindruck ist monumental. Das Niedersächsische Staatsorchester spielt in erweiterter Besetzung, allein die Anzahl der Violinen wurden vom durchschnittlichen knappen Dutzend auf 24 fast verdoppelt. Im Bereich Schlagwerk kommen neben diversen Trommeln mehrere Bongos, Tomtoms und ganz verschiedene Gongs zum Einsatz. Sie sitzen präsent platziert im Hintergrund auf der Bühne, weil der Platz im Orchestergraben dafür nicht ausreicht.
"Die Musik ist unglaublich direkt und zieht einen unmittelbar in den Bann. Sie ist sehr komplex, sie ist strukturell sehr aufgefächert, sehr differenziert, es gibt unglaublich tolle Farb-Effekte im Orchester", erklärt Generalmusikdirektor Stephan Zilias und fügt hinzu: "Ich würde noch nicht einmal sagen, dass sie ins Herz zielt. Sie zielt irgendwie ins Mark. Das ist eine Musik, die schwitzt und die stinkt. Und die hat kein Make-up. Das ist eine wahnsinnig direkte, unverstellte Musik. Musik, die sehr erschüttern kann."
Strudel aus Machtgelüsten und Gier
Die Erschütterung kommt nicht von ungefähr. Der alte König Lear, der sein Reich unter seinen drei Töchtern aufteilen will, gerät in einen Strudel aus Machtgelüsten und Gier. Während die beiden älteren Töchter ihm wortreich ihre Liebe beteuern, um zum Zug zu kommen, schweigt Cordelia, die jüngste. Darüber gerät Lear in Rage und verstößt sie. Ein munteres Gemetzel um die Herrschaft im Reich bricht aus, in dem sich die Töchter, ihre Männer und weitere Eingeweihte befehden.
Der Regent selbst endet im Wahnsinn. Gesungen wird er vom Bariton Michael Kupfer-Radetzky: "Wo fängt der Wahnsinn an? Wo ist man noch in klaren Gedanken? Da bleibt Reimann beim Shakespeare, was einfach brutal ist, diese Erkenntnis am Schluss. Lear realisiert immer mehr und mehr, wie falsch seine Entscheidung war. Aber in dem Realisieren kommt eben auch der Wahnsinn, weil er sich selber dann auch nicht mehr verstehen kann. Warum habe ich es getan? Und er kann es nicht mehr rückgängig machen."
Joe Hill-Gibbins führt Regie
Die Besetzungsliste von Hannover kann sich sehen lassen: Regie führt der Brite Joe Hill-Gibbins, der 2021 in Hannover bereits mit seiner witzigen Oper "Greek" von Mark-Anthony Turnage punktete. Sopranistin Angela Denoke verkörpert Tochter Goneril, Counter-Tenor Nils Wanderer gibt den Sohn von Lears Gefolgsmann Graf von Gloster.
Sie alle eint die Herausforderung, ihre Stimmlage in dieser komplexen Oper zu finden, sagt Lear-Interpret Kuper-Radetzky: "Reimann gibt mir in der Partie im ganzen Stück nur dreimal wirklich einen Ton vor, der im Orchester laut gespielt wird. Sonst ist das Freiflug. Wenn man dann nicht ein absolutes Gehör hat - das ich nicht habe -, dann muss man einfach viel über das Wiederholen, der 'muscle memory' in den Stimmbändern, machen und schauen, dass man dann irgendwie richtig liegt."
"Muscle memory", das Stimmbandgedächtnis - es ist diesmal ganz anders gefragt als in der letzten umjubelten Doppelrolle von Kupfer-Radecky im Herbst im "Parsifal" an der Staatsoper Hannover. Klingt, als sollte also auch das Publikum diesem Meisterwerk der Moderne bewusst mit allen Sinnen begegnen.
"Lear" an der Staatsoper Hannover: "Musik, die erschüttern kann"
Shakespeares blutrünstiges Königsdrama in der avantgardistischen Opernfassung von Aribert Reimann feierte Sonnabend Premiere.
- Art:
- Bühne
- Datum:
- Ende:
- Ort:
-
Staatsoper Hannover
Opernplatz 1
30159 Hannover - Preis:
- ab 21,50 Euro