Ulrike Draesners "Die Verwandelten": Was Krieg mit Menschen macht
Ulrike Drasners "Die Verwandelten" ist für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. In dem Roman geht es um "das weibliche Gesicht des Krieges innerhalb der Zivilbevölkerung", so Ulrike Draesner.
Schon in ihren Romanen "Sieben Sprünge vom Rand der Welt" und "Schwitters" hat Ulrike Draesner beschrieben, was Krieg, Flucht und Vertreibung mit Menschen machen. Wie, ausgehend von den Gräueln des Zweiten Weltkriegs, ein Jahrhunderttrauma entsteht und sich über Generationen fortsetzt. Daran schließt der neue Roman "Die Verwandelten" an. Er nimmt besonders die Frauen in den Blick.
Wie schreiben über etwas, für das es eigentlich keine Worte gibt?
Wie schreiben über etwas, für das es eigentlich keine Worte gibt und dabei auch noch über fast 600 Seiten eine Geschichte erzählen, die atemlos macht und mitreißt? Ulrike Draesner ist dies gelungen. Immer wieder wechselt sie dafür die Perspektive und die Zeitebene, und wir folgen ihr gebannt auf den verschlungenen Wegen durch das 20. Jahrhundert. Der Roman beginnt allerdings im Hier und Jetzt. Kinga ist Juristin und reist nach Hamburg, um dort einen Vortrag zu halten über die unehelichen, "arischen" Kinder, die während der Nazizeit in den Lebensborn-Heimen der SS zur Welt kamen und später zur Adoption freigegeben wurden. Bevorzugt an systemtreue Familien. Wie ihre Mutter Alissa, die ein Leben im "Dazwischen" führte.
Gesprochen wurde insgesamt wenig. Das wenige zerging in Anekdoten, in halb fertigen Geschichten, zerbrechenden Refrains, "wir haben..", "das war..", "sei froh, dass es dich überhaupt gibt." So habe man in Haus Hochland gesagt. Sie habe allein in einem Zimmer gesessen und sei bewacht worden. An den Geruch frischer Wäsche erinnere sie sich. An weiße Bettlaken. "Sei froh, dass es dich überhaupt gibt." Leseprobe
Ihre Tochter Kinga ist ausschließlich mit bunten Bettlaken aufgewachsen. Als Alissa stirbt, erbt Kinga überraschend eine Wohnung in Wrocław. Hier war die Mutter zuletzt oft auf der Suche nach ihren schlesischen Wurzeln. Dabei traf Alissa dort auch auf Walla Dombrowska, die sie allerdings Reni nennt, Reni Valerius.
Nach einem Trauma wird aus Reni Walla
"Am Ende geht es um die Frage der weiblichen Identität. Wie entsteht die, inwieweit kann eine Frau die auch selbst formen in diesem großen Geschichtsmalstopf des 20. Jahrhunderts", so Ulrike Draesner im Deutschlandfunk. Denn Reni und Alissa wuchsen die ersten Jahre in einem Haushalt auf, im damals noch deutschen Breslau: Sie haben denselben Vater, Alissas Mutter arbeitete als Köchin bei Renis Familie. Anders als andere Lebensbornkinder wurde sie nicht direkt zur Adoption freigegeben, sondern erst später; sie landet in München. Reni flieht 1945 mit ihrer Mutter vor den Russen aus Breslau. In einem Schweinestall fallen die Frauen den Soldaten jedoch in die Hände.
Danach ist die 16-jährige Reni eine andere. Sie schafft es, sich mit ihrer Mutter zurück nach Breslau durchzuschlagen und wird, um überleben zu können: Walla. Die neue polnische Verwaltung lässt die gesamte deutsche Bevölkerung deportieren.
Ich war Walla, Reni ein Teil meines Körpers mit den Narben und der deutschen Stimme, umschlossen von einer starken polnischen Frau. Leseprobe
Ihren vier Kindern erzählt Reni/Walla davon nichts.
Ulrike Draesners virtuose Wortspiele
Ulrike Draesner gelingt es, Bilder heraufzubeschwören, ohne die Vergewaltigungen, ohne die Morde zu beschreiben. Sie ist bei und in den Figuren, findet Worte für das Verstummen, das Zögern, das Aus-der-Welt-Fallen. Wieder und wieder zeigt sich dabei, dass sie auch Lyrikerin ist. Wie sie mit deutschen, polnischen, schlesischen Wörtern und Redewendungen spielt, ist virtuos. Sie spinnt Wort-Fäden. Zunehmend werden die Verbindungen zwischen den Frauen sichtbar, auch bestimmte Muster, die sich über die Generationen wiederholen. Immer wieder erdet Draesner die Geschichten: Die Natur spielt dabei eine wichtige Rolle, spendet Halt und Freude. Der vielleicht wichtigste Kraftquell ist die Oder. Sie fließt durch Breslau/Wrocław und in übertragenem Sinne auch durch den Roman:
Die Oder war unser Glück. Sie zeigte uns, wie man sich anschmiegte, mit etwas floss. So wurden wir nicht zu Stein. Steine wurden zerrieben. Leseprobe
Die Verwandelten
- Seitenzahl:
- 608 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Penguin
- Bestellnummer:
- 978-3-328-60172-2
- Preis:
- 26 €