"Überfluss": Jakob Guanzons herausragend komponierter Debütroman
Kaum war sein Debütroman 2021 in den USA erschienen, wurde Jakob Guanzon für den National Book Award for Fiction und für den Aspen Words Literary Prize nominiert. "Überfluss" überzeugt durch Guanzons psychologisches Feingefühl für seine Figuren.
Henrys Sohn Junior hat Geburtstag. Der Junge wird acht Jahre alt, und sein Vater versucht, das Beste daraus zu machen. Denn die beiden leben in einem Truck. Die Ladefläche dient als Lager ihrer Habseligkeiten. Den Geburtstag seines Sohnes zu feiern, bedeutet bei McDonalds essen zu gehen. Dafür macht sich Henry auf der Toilette des Schnellrestaurants frisch.
Der Wasserhahn springt automatisch an. Bevor er Brust und Gesicht wäscht, streckt er ein Bein aus und drückt die Stiefelspitze gegen die Tür. Keine Lust, gesehen zu werden, hierbei. Leseprobe
Nach dem Besuch im Fastfood-Restaurant verbleiben Henry exakt 77,41 Dollar. Alle Kapitel in Jakob Guanzons beeindruckendem Debütroman "Überfluss" tragen Geldbeträge als Überschriften, die das jeweilige Budget der Hauptfigur widerspiegeln. Das Restgeld ist für eine Nacht im Motel gedacht. Am nächsten Morgen würde Henry seinen Sohn wieder zur Schule fahren, um danach zu einem wichtigen Vorstellungsgespräch zu gehen, das eine Verheißung auf ein neues Leben bedeutet. Doch es kommt zu einer unerwarteten Auseinandersetzung mit einem Zimmernachbarn und Henry rastet aus.
"Überfluss": Harte Geschichte auf zwei Zeitebenen
Jakob Guanzons Roman "Überfluss" ist eine harte, kunstvoll komponierte und auf unterschiedlichen Sprachregistern laufende Geschichte auf zwei Zeitebenen. Die zweite reicht in Henrys Vergangenheit. Als Sohn von Akademikern hat er keine schlechten Startvoraussetzungen. Doch als sein philippinischer Vater als Lehrer einen Fehltritt begeht, verliert er seinen Job und schlägt sich auf dem Bau durch. Henry begreift früh, dass es im Leben um Zugehörigkeit und Anerkennung geht. Die hängt in einem kapitalistischen System mit der Kaufkraft des Einzelnen zusammen. Individuelles Denken, besondere Begabungen oder gar Kreativität sind nicht gefragt.
Zum ersten Mal war eine von Henrys festen Überzeugungen von einem System erschüttert worden, dem er sich nur unterwerfen konnte. Leseprobe
Genau diese Hilflosigkeit zeichnet auch Henrys Vater aus. Beide Männer scheinen ein ähnliches Schicksal zu haben. Sie sind verbittert und regelrecht getroffen von der Ungerechtigkeit ihrer jeweiligen Lebensumstände. So als ob es sich um eine Erblast handle. Das erzeugt auch bei Henry Wut und Verzweiflung.
Er will doch nur wie all diese Menschen sein, ein Amerikaner, der aus dem winzigen Bisschen, das er besitzt, das Beste macht. Das alles ist gleich hier, direkt vor seiner Nase, nur Zentimeter von seinen Fingerspitzen entfernt, also streckt er sie aus. Leseprobe
Henrys Leben spitzt sich immer mehr zu. Zeitweise hat er gar kein Geld mehr und sein plötzlich an hohem Fieber erkrankter Sohn braucht dringend Medikamente. Doch Henry bekommt generell nie ein Echo auf seine Hilfeschreie. Vielleicht auch deshalb, weil er falsch ruft.
Jakob Guanzon überzeugt durch sein psychologisches Feingefühl
Jakob Guanzon beschreibt in seinem sehr lesenswerten Roman, was passiert, wenn sich individuelle Verhaltensmuster, unglückliche Umstände, verpasste Chancen und das Gefühl von Verlorenheit zu einem unkontrollierbaren Orkan auftürmen. "Überfluss" überzeugt letztendlich durch Jakob Guanzons psychologisches Feingefühl für seine Figuren. Henry begegnet seinem Schicksal mit einer Art von Optimismus und spielfreudiger Eigeninszenierung, die man aus US-amerikanischen Teenagerfilmen und Sitcoms her kennt. Dadurch gelingt es dem literarisch herausragend komponierten Roman auch, nicht zu einer abgeschmackten Erzählung über Armut zu verkommen.
Überfluss
- Seitenzahl:
- 384 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Aus dem Amerikanischen von Dietlind Falk
- Verlag:
- Elster & Salis
- Bestellnummer:
- 978-3-906903-20-0
- Preis:
- 25 €