"Maman": Sylvie Schenks Roman über die Kindheit ihrer Mutter
Sylvie Schenks Roman "Maman" ist eine behutsame Annäherung an ein schweres Schicksal. Die 1944 in Frankreich geborene Schriftstellerin versucht darin, die Lebensgeschichte ihrer Mutter zu ergründen.
Ganze Epochen von Schriftstellern haben sich intensiv damit beschäftigt, was ihre Eltern ihnen während der Kindheit angetan haben und wie es einen erwachsenen Menschen belasten kann. Seit einigen Jahren schon haben etliche Autoren damit begonnen zu erkunden, was denn ihre, oft so wunderlichen oder unmäßig gestrengen Eltern selbst in ihrer Kindheit erlebt haben könnten. Etwa die Nobelpreisträgerin Annie Ernaux hat in dieser Weise über ihren Vater und ihre Mutter geschrieben. Der neue Roman von Sylvie Schenk wirkt ähnlich wie deren Texte, allerdings mit dem Unterschied, dass sie als Erzählerin von der Kindheit der Mutter immer wieder zweifelt, ob es denn richtig sei, was sie darüber zusammengetragen und geschrieben habe. Das macht die Lektüre etwas sanfter.
Eine Kindheit ohne Liebe
Die Mutter von Sylvie Schenk und ihren Geschwistern war emotional schwer erreichbar für ihre Kinder und niemals wirklich zärtlich:
Ich habe sie geliebt, wie man ein seltsames Wesen liebt, das zu einem gehört, ein Geheimnis, das man bewahrt. Eine Raritätenmutter, die man beschützen muss, auch wenn ich sie manchmal abstoßend fand. Leseprobe
Als erwachsene Frau versucht die Ich-Erzählerin zu verstehen, was es bedeutet haben mag, in den ersten Jahren kein richtiges Zuhause zu haben. Die Mutter war ungewollt von einem ihrer Freier geschwängert worden und kurz nach der Geburt gestorben. Offenbar fand sich niemand, der das kleine Wesen wirklich liebhaben konnte. Zu ihren eigenen Kindern hat sie später nur ein eher distanziertes Verhältnis entwickelt:
Maman hat uns in die Welt gesetzt und wild wachsen lassen wie Unkraut. Es hatte Vorteile. Dank ihres Systems bekamen wir frische Luft. Leseprobe
Sylvie Schenk gehört eindeutig zu der Generation von Kindern, die noch gänzlich unbetreut draußen spielen durften. Ihre Mutter hat erst, als sie schon Schulkind war, Adoptiveltern bekommen, sie kam dann endlich in eine liebevolle Familie. Aber damit gehörte sie in der Gesellschaft nicht wirklich dazu und die anderen Kinder ließen sie ihren Makel brutal spüren. Sie wurde gehänselt und ausgeschlossen.
"Maman": Bedingungslose Suche nach der Wahrheit
Der Roman von Sylvie Schenk über "Maman" ist eine behutsame Annäherung an ein schweres Schicksal. Aber er ist kein Klagelied, sondern erzählt auch mit Temperament und Witz einfach von dem alltäglichen Stress von Leuten, die sich lieben. Es geht hin und her zwischen Jetzt, der eigenen Kindheit und der Kindheit ihrer Mutter. Die Familie besaß schon während der Kindheit der Mutter ein Ferienhaus, ein Chalet in den Bergen:
Nicht grundlos explodieren in Filmen (…) in Ferienhäusern Leidenschaften und Verbrechen. Das Ferienhaus ist ein Mythos des Paradieses und der Hölle auf Erden. Leseprobe
Eine Beschäftigung mit den eigenen Eltern in literarischer Form hat nur Wert und ergibt Sinn, wenn es zu keiner Schönfärberei der Familiengeschichte gerät und eine Art inszenierte Leistungsschau mit ein paar schwarzen Schafen dazwischen wird. Gerade die bedingungslose Suche nach Wahrheit macht ein solches Schreibprojekt auch für andere Leser zu einer wertvollen Lektüre - wie in diesem Fall.
Maman
- Seitenzahl:
- 174 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Hanser
- Bestellnummer:
- 978-3-446-27623-9
- Preis:
- 22 €