"Koller": Annika Büsings rasantes Roadmovie stellt großen Fragen

Stand: 22.03.2023 06:00 Uhr

Wie schon in ihrem ersten Roman "Nordstadt" geht es Annika Büsing auch in "Koller" darum, Menschen nicht in Schubladen zu stecken, sondern zu zeigen, was in ihnen steckt.

von Katja Weise

Sie macht es wieder: Wie schon in "Nordstadt" erzählt Annika Büsing ihre Geschichte vom Ende her.

Das Meer riecht genau richtig nach Meer. Nicht zu salzig und nicht zu ölig, nicht nach Fisch und nicht nach Lunge. (..) Wo wir sitzen, ist es trocken und warm. Es liegt Geborgenheit im Wind. Ich blicke auf seine Füße und bin überrascht, dass ich sie okay finde. Wir haben fünf Tage zusammen verbracht. Ich kenne seinen Geruch am Morgen. Wir haben uns nur ein einziges Mal geküsst. Leseprobe

Erst allmählich wird klar: Es sind zwei Männer, die hier in Klütz am Strand sitzen. Aus Leipzig sind sie auf Umwegen hierher gekommen.

"Ich finde auch chronologisches Erzählen reizvoll", sagt Annika Büsing. "Aber bei den Geschichten schien es mir irgendwie charmanter, wenn man erst mal so ein bisschen eintauchen muss, ein bisschen hin- und hergeworfen wird in der Geschichte und nicht sofort alles vorgelegt bekommt, was man wissen muss. Sondern dass sich ein Bild nach und nach zusammensetzt, sodass man auch viel Eigenes da mit reintransportieren kann."

Weitere Informationen
Cover des Buches "Nordstadt" von Annika Büsing © Steidl Verlag

Annika Büsing erhält Mara-Cassens-Preis

Den Preis hat die Autorin für ihren Debütroman "Nordstadt" im Literaturhaus Hamburg bekommen. mehr

Wie gehen wir mit der Schöpfung um?

Chris und Koller, eigentlich Kolja, beide um die 30, begegnen sich zufällig, in einem Park in Leipzig. Es ist ein "coup de foudre":

Wir sahen uns an. Später sagte er, er habe Angst gehabt, dass ich wegsehen würde. Falsch gedacht. Und weil ich so stark und schön war, löste er sich von der Gruppe, um mich zu erobern. Er kam zu mir, mit langen, leichten Schritten, jemand, der sein Ziel fest vor Augen hat. Leseprobe

Gemeinsam verlassen sie den Park, gemeinsam sitzen sie kurz darauf in einem klapprigen Polo und fahren nach Ludwigsburg, um Kollers Schwester zu besuchen. Bevor sie schließlich in Klütz landen, machen Sie außerdem einen plötzlich dringend erforderlichen Umweg über das Ahrtal: Hier sind viele Straßen und Brücken gesperrt, Häuser zerstört, die Geschichte spielt 2021, im Jahr des Jahrhunderthochwassers.

Wie gehen wir mit der Schöpfung um, wie verändert sich das Klima, die Natur? Das ist neben der Liebesgeschichte ein wichtiges Thema von Annika Büsing. Das verrät etwas hinterlistig der Aufbau des Romans. Er ist formal gegliedert wie die Schöpfungsgeschichte: sieben Tage, sieben Kapitel. Und er endet mit den Worten:

Und siehe, es ist alles sehr gut. Leseprobe

Annika Büsing zeigt, was in uns steckt

Gleichzeitig macht Büsing deutlich, dass es für Chris und Koller als homosexuelles Paar in der Bibel keine Vorbilder gibt: "Das ist eine Auseinandersetzung, die ich auch aufbringen wollte. Ich finde, es ist auch wichtig, sich bewusst zu machen, dass Religion ein Leitfaden sein kann, gläubig zu sein, aber gleichzeitig auch sehr viel kaputt macht und Menschen sehr in Ecken stellt."

Chris und Koller könnten gegensätzlicher kaum sein. Chris ist übermäßig reflektiert und nahezu unfähig, sich anderen zu öffnen, Koller hingegen lebt intuitiv. Er macht sich "kein Bildnis", nimmt Menschen, wie sie sind. Wie schon in "Nordstadt" geht es Annika Büsing auch in "Koller" darum, Menschen nicht in Schubladen zu stecken, sondern zu zeigen, was in ihnen steckt, ihnen eine Freiheit des Seins zuzugestehen. Schnell entfaltet die Geschichte mit all ihren Volten einen Sog.

Weitere Informationen
Die drei Hosts vom NDR Bücherpodcast "eat.READ.sleep.". © NDR/Sinje Hasheider Foto: Sinje Hasheider

Podcast: eat.READ.sleep. Bücher für dich

Beim Podcast eat.READ.sleep bekommt ihr aktuelle Buchtipps, Interviews mit Büchermenschen, literarische Fun Facts und neu entdeckte Klassiker. mehr

"Koller": Frischer Ton und überraschende Bilder

"Koller" ist vom Aufbau komplexer und vielstimmiger als "Nordstadt", aber ebenso frisch und direkt im Ton und überraschend in den Bildern. Ein rasantes Roadmovie, das die ganz großen Fragen vor Augen hat, aber jederzeit auf teilweise wunderbar absurde Weise geerdet bleibt. Der Showdown an der Ostsee in Klütz jedenfalls hat es in sich. Und es ist am Ende - dem letzten Satz zum Trotz - doch nicht alles gut. Aber vielleicht: "Ich habe selber am Ende drüber nachgedacht, wie ich das weiterdenken würde, und ich finde je nach Tagesverfassung etwas anderes möglich", erzählt Annika Büsing. "Ich glaube auch, dass jeder oder jede, die es liest, es anders weiterdenken wird."

Koller

von Annika Büsing
Seitenzahl:
176 Seiten
Genre:
Roman
Verlag:
Steidl
Bestellnummer:
978-3-96999-196-1
Preis:
20 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Neue Bücher | 22.03.2023 | 12:40 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Romane

Viele Bücher in Regalen in einer Buchhandlung, eine junge Frau steht vor einem der Borde und zieht Bücher heraus © Rolf Vennenbernd/dpa +++ dpa-Bildfunk +++ Foto: Rolf Vennenbernd

Bücher 2023: Diese Romane haben uns bewegt

Ob Juli Zehs "Zwischen Welten", Stuckrad-Barres "Noch wach?" oder Kehlmanns "Lichtspiel" - viele Bücher haben 2023 für Gesprächsstoff gesorgt. mehr

Ein Latte Macchiato, eine Brille und eine Kerze liegen auf einem Buch © picture alliance / Zoonar | Oleksandr Latkun

Bücher 2024: Das waren die interessantesten Neuerscheinungen

Unter anderem gab es Neues von Martina Hefter, Frank Schätzing, Markus Thielemann, Isabel Bogdan oder Lucy Fricke. mehr

Logo vom NDR Kultur Podcast "eat.READ.sleep" © NDR Foto: Sinje Hasheider

eat.READ.sleep. Bücher für dich

Lieblingsbücher, Neuerscheinungen, Bestseller – wir geben Tipps und Orientierung. Außerdem: Interviews mit Büchermenschen, Fun Facts und eine literarische Vorspeise. mehr

Eine Grafik zeigt einen Lorbeerkranz auf einem Podest vor einem roten Hintergrund. © NDR

Legenden von nebenan: Wer hat Ihren Ort geprägt?

NDR Kultur erzählt die Geschichte von Menschen, die in ihrer Umgebung bleibende Spuren hinterlassen haben - und setzt ihnen ein virtuelles Denkmal. mehr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

Abonnieren Sie den NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

NDR Kultur App Bewerbung © NDR Kultur

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Mehr Kultur

Die Schauspielerin Katharina Thalbach sitzt auf einem Sofa. © Screenshot

Katharina Thalbach mit "Ein Wintermärchen" wieder in der Elphi

"Ein Wintermärchen" mit Katharina Thalbach in der Elbphilharmonie ist fast ein Klassiker. Heute ist die erste von neun Aufführungen. mehr