"Koller": Annika Büsings rasantes Roadmovie stellt großen Fragen
Wie schon in ihrem ersten Roman "Nordstadt" geht es Annika Büsing auch in "Koller" darum, Menschen nicht in Schubladen zu stecken, sondern zu zeigen, was in ihnen steckt.
Sie macht es wieder: Wie schon in "Nordstadt" erzählt Annika Büsing ihre Geschichte vom Ende her.
Das Meer riecht genau richtig nach Meer. Nicht zu salzig und nicht zu ölig, nicht nach Fisch und nicht nach Lunge. (..) Wo wir sitzen, ist es trocken und warm. Es liegt Geborgenheit im Wind. Ich blicke auf seine Füße und bin überrascht, dass ich sie okay finde. Wir haben fünf Tage zusammen verbracht. Ich kenne seinen Geruch am Morgen. Wir haben uns nur ein einziges Mal geküsst. Leseprobe
Erst allmählich wird klar: Es sind zwei Männer, die hier in Klütz am Strand sitzen. Aus Leipzig sind sie auf Umwegen hierher gekommen.
"Ich finde auch chronologisches Erzählen reizvoll", sagt Annika Büsing. "Aber bei den Geschichten schien es mir irgendwie charmanter, wenn man erst mal so ein bisschen eintauchen muss, ein bisschen hin- und hergeworfen wird in der Geschichte und nicht sofort alles vorgelegt bekommt, was man wissen muss. Sondern dass sich ein Bild nach und nach zusammensetzt, sodass man auch viel Eigenes da mit reintransportieren kann."
Wie gehen wir mit der Schöpfung um?
Chris und Koller, eigentlich Kolja, beide um die 30, begegnen sich zufällig, in einem Park in Leipzig. Es ist ein "coup de foudre":
Wir sahen uns an. Später sagte er, er habe Angst gehabt, dass ich wegsehen würde. Falsch gedacht. Und weil ich so stark und schön war, löste er sich von der Gruppe, um mich zu erobern. Er kam zu mir, mit langen, leichten Schritten, jemand, der sein Ziel fest vor Augen hat. Leseprobe
Gemeinsam verlassen sie den Park, gemeinsam sitzen sie kurz darauf in einem klapprigen Polo und fahren nach Ludwigsburg, um Kollers Schwester zu besuchen. Bevor sie schließlich in Klütz landen, machen Sie außerdem einen plötzlich dringend erforderlichen Umweg über das Ahrtal: Hier sind viele Straßen und Brücken gesperrt, Häuser zerstört, die Geschichte spielt 2021, im Jahr des Jahrhunderthochwassers.
Wie gehen wir mit der Schöpfung um, wie verändert sich das Klima, die Natur? Das ist neben der Liebesgeschichte ein wichtiges Thema von Annika Büsing. Das verrät etwas hinterlistig der Aufbau des Romans. Er ist formal gegliedert wie die Schöpfungsgeschichte: sieben Tage, sieben Kapitel. Und er endet mit den Worten:
Und siehe, es ist alles sehr gut. Leseprobe
Annika Büsing zeigt, was in uns steckt
Gleichzeitig macht Büsing deutlich, dass es für Chris und Koller als homosexuelles Paar in der Bibel keine Vorbilder gibt: "Das ist eine Auseinandersetzung, die ich auch aufbringen wollte. Ich finde, es ist auch wichtig, sich bewusst zu machen, dass Religion ein Leitfaden sein kann, gläubig zu sein, aber gleichzeitig auch sehr viel kaputt macht und Menschen sehr in Ecken stellt."
Chris und Koller könnten gegensätzlicher kaum sein. Chris ist übermäßig reflektiert und nahezu unfähig, sich anderen zu öffnen, Koller hingegen lebt intuitiv. Er macht sich "kein Bildnis", nimmt Menschen, wie sie sind. Wie schon in "Nordstadt" geht es Annika Büsing auch in "Koller" darum, Menschen nicht in Schubladen zu stecken, sondern zu zeigen, was in ihnen steckt, ihnen eine Freiheit des Seins zuzugestehen. Schnell entfaltet die Geschichte mit all ihren Volten einen Sog.
"Koller": Frischer Ton und überraschende Bilder
"Koller" ist vom Aufbau komplexer und vielstimmiger als "Nordstadt", aber ebenso frisch und direkt im Ton und überraschend in den Bildern. Ein rasantes Roadmovie, das die ganz großen Fragen vor Augen hat, aber jederzeit auf teilweise wunderbar absurde Weise geerdet bleibt. Der Showdown an der Ostsee in Klütz jedenfalls hat es in sich. Und es ist am Ende - dem letzten Satz zum Trotz - doch nicht alles gut. Aber vielleicht: "Ich habe selber am Ende drüber nachgedacht, wie ich das weiterdenken würde, und ich finde je nach Tagesverfassung etwas anderes möglich", erzählt Annika Büsing. "Ich glaube auch, dass jeder oder jede, die es liest, es anders weiterdenken wird."
Koller
- Seitenzahl:
- 176 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Steidl
- Bestellnummer:
- 978-3-96999-196-1
- Preis:
- 20 €