"Übrigens unzufrieden": Die tägliche Twitter-Dosis Thomas Mann
Täglich leiden mit Thomas Mann: Auf seinem Twitter-Account "@DailyMann" stellt Literaturwissenschaftler Felix Lindner Zitate aus Manns Tagebüchern vor. Sie sind so verblüffend wie unterhaltsam.
Thomas Mann, der bekannte Verfasser der Buddenbrooks, der Nobelpreisträger und Großschriftsteller, "hätte sich eher beide Hände amputieren lassen, als zu twittern", meint der Literaturwissenschaftler Felix Lindner. Auf seinem Twitter-Account "@DailyMann" stelllt er Zitate aus Manns Tagebüchern vor. Und das mit großem Erfolg - und großer Gefolgschaft.
Thomas Mann: "Meine eigenen Darmverhältnisse sehr ungehörig"
"Oh, Mann-o-Mann!", entfährt es einem gelegentlich beim Lesen der Zitate aus Thomas Manns Tagebüchern, die der Literaturwissenschaftler Felix Lindner täglich auf seinem Twitterkanal "Thomas Mann Daily" präsentiert. Dass DER deutsche Literatur-Nobelpreisträger, der fast immer Erstgenannte, wenn es um berühmte Schriftsteller*innen des 20. Jahrhunderts geht, der gefürchtete Verfasser verschachtelster Sätze, dass ausgerechnet dieser Thomas Mann diese unfassbar profanen Befindlichkeitsmeldungen über Jahre hinweg täglich notiert hat, ist so verblüffend wie unterhaltsam.
13.1.1941: Verbrachte den Vormittag untätig.
22.12.1918: Nervös geschlafen infolge erotischer Vorstellungen abends.
18.12.1937: Den ganzen Tag angewidert […].
17.12.1952: Zur Pediküre, die nur verstärkte, bis heute anhaltende Empfindlichkeit der Zehe bewirkte.
Zitate aus den Tagebüchern Thomas Manns
Unter all diesen täglichen und alltäglichen Auszügen aus Thomas Manns Schriftstellerdasein gefällt dem Literaturwissenschaftlicher Felix Lindner das Folgende ganz besonders: "Mein Lieblingszitat ist: 'Meine eigenen Darmverhältnisse sehr ungehörig'. Das ist vom 16. Dezember 1953. Und das ist nicht das Schönste, aber ich glaube, es macht transparent, wie sehr sich doch alles im Umfeld dieses Mannes seinem kreativen Habitus unterordnen musste. Also der Darm genauso ungehörig ist wie der Pudel, wie die Haushälterin, wie die Kinder, alles, was um diesen kreativen Habitus herum stattfindet."
Profane Befindlichkeitsmeldungen
Wie kommt man denn aber auf die Idee, jeden Tag aus den Tagebüchern von Thomas Mann zu twittern? "Die Idee kam mir im April 2022, als ich mich für meine Doktorarbeit wieder mehr mit den Mann-Tagebüchern beschäftigt habe", berichtet Lindner. "Ich konnte das alles irgendwann nicht mehr ertragen, dieses endlose, peinliche Selbstgespräch. Es sind 9.000 Seiten, es sind zehn Bände. Vieles davon sind Befindlichkeitsmeldungen. Ich dachte eben: Dann müssen es halt alle lesen. Ich glaube, am Ende war es dann doch wieder, um mehr Distanz zu meinem Gegenstand zu gewinnen."
Seine Doktorarbeit schreibt Felix Lindner über den quälenden Prozess schriftstellerischer Produktion: "Die Vorbereitung des Werks. Körperkontrolle und Schreiboptimierung um 1900" ist der Titel seiner Doktorartbeit. Die Beobachtung des eigenen Körpers, das Aufschreiben des Allgemeinbefindens in Tagebüchern von Schriftstellern in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist sein Forschungsgegenstand.
"Ich beschäftige mich damit, wie Schriftsteller in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts versucht haben, ihre Körper zu analysieren, zu beobachten, um besser schreiben zu können, um schneller schreiben zu können, um mehr schreiben zu können. Wie sie versucht haben, eine Art Arbeitsstimmung herzustellen. Und das, wie wir bei Thomas Mann sehen, ist nicht immer gut gelungen", lacht Lindner.
Twittern als Mittel der Distanz
Den Twitter-Kanal erfand Lindner, um zu seinem Forschungsgegenstand wieder etwas Distanz zu gewinnen. Man fragt sich: Wäre aber der große Schreiber nicht in diesem Medium selbst ganz prima aufgehoben? Lindner ist sich sicher, es würde dann wie folgt lauten: "Hier twittert Katia Mann, weil Thomas' Tür zu ist. Erika ordnet." Denn diese simple Aufgabe würde dann natürlich seine Frau Katia übernehmen, damit der Herr des Hauses in Ruhe schreiben kann.
Lindner selbst führt übrigens kein Tagebuch, denn er hat ja von den Protagonisten seiner Forschungsidee gelernt: "Diese Aufzeichnungen fördern die Kreativität eher weniger - besser man macht einen Spaziergang." Und Felix Lindner kann sich die unterhaltsamen Kommentare zu seinen Tweets anschauen.
Dass man sich ein bisschen wie eine Voyuerin, wie ein Voyeur fühlt, ist der Grund des Erfolges vieler veröffentlichter Tagebücher. Und einen so intimen Blick in die Leiden des Thomas Mann zu erhalten, ist sicher auch einer der Gründe für knapp 32.000 Follower von "Thomas Mann daily": "Ich glaube, da spielt rein, dass es eine Art von Befriedigung dadurch gibt, dass es einen Nobelpreisträger, einen vermeintlichen Heroen des Schaffens, gibt, den wir als prototypischen Heimarbeiter kennen, der seine Kreativität von nichts hat beeindrucken lassen. Da tut es doch gut und ist sozusagen eine kollektive Entspannungsübung, einen Nobelpreisträger zu sehen, der wirklich jeden Tag mit seinem Schaffen hadert", sagt Felix Lindner.