Biograf Reiner Stach über Kafka: "Der weltweit einflussreichste Schriftsteller"
Vor 100 Jahren verstarb der damals unbekannte, aber heute weltberühmte Autor Franz Kafka. "Das öffentliche Bild Kafkas hat sich deutlich verändert", findet sein Biograf Reiner Stach im Interview.
Zahllose Bücher, Filme, Serien und Zeitungsartikel sind im Jubiläumsjahr neu erschienen. Und doch bleibt die Figur des Franz Kafka für viele rätselhaft, widersprüchlich und faszinierend. Über all dies weiß kaum jemand so gut Bescheid wie der Kafka-Experte Reiner Stach.
Herr Stach, hat sich Ihr Bild durch dieses Kafka-Jahr eigentlich auch verändert? Haben Sie vielleicht sogar noch etwas Neues über ihn erfahren?
Reiner Stach: Das, was ich jetzt an Veränderung des öffentlichen Kafka-Bilds erlebe, das ist bei mir natürlich schon ein bisschen früher passiert, als ich ausführlich über Kafka während der Arbeit an der Biografie recherchiert habe. Da hat sich im Lauf der Jahre das Bild, was ich für diesen Menschen im Kopf hatte, sehr aufgehellt. Und jetzt merke ich, dass etwas Ähnliches auch bei einem großen Publikum passiert.
Überall wird über ihn geschrieben, er wird wie ein Popstar behandelt, es wird immer wieder das gleiche Bild, auf dem er so unglücklich aussieht, abgedruckt. Finden Sie das eigentlich toll, was gerade passiert?
Stach: Ich finde das deswegen toll, weil Kafka jetzt intermedial wird. Er taucht im Kino auf, er taucht in einer Serie auf, die Theater kümmern sich intensiv um Kafka, obwohl er ja gar kein Theaterstück geschrieben hat. Aber die Bilder, die er erfunden hat, die Metaphern, sind auch auf der Bühne sehr wirksam. Es gibt eine ganze Reihe von Graphic Novels - einige davon gefallen mir sehr. Ich finde, gegen diese intermediale Wirkung von Kafka ist überhaupt nichts einzuwenden. Das ist auch mehr als Popularisierung - das sind zum Teil Sachen, die fast auf Augenhöhe sind mit Kafkas Texten.
Ich kann mir vorstellen, dass Sie als Kafka-Experte im Moment viel mehr dazu befragt werden als je zuvor, oder?
Stach: Das ist natürlich so. Im Moment bin ich jeden Tag in einer anderen Stadt und das seit zwei Monaten. Aber das Erstaunliche ist: Obwohl ich mir schon gedacht habe, dass da eine Welle auf uns zukommt, habe ich nicht damit gerechnet, dass ich wochenlang nur volle Säle vor mir sehe. Unglaublich viele Leute kommen in die Veranstaltungen und vor allem überdurchschnittlich viele Leser zwischen 20 und 30. Das hab ich bei meinen früheren Lesungen so noch nie erlebt. Das ist ein Zeichen dafür, dass sich das öffentliche Bild Kafkas deutlich verändert hat. Früher haben viele Leute Angst vor diesem Namen gehabt: Wenn man "Kafka" aussprach, dann war das nächste Wort gleich "Interpretation". Daran sind natürlich auch die Schulen schuld, dass das so gelaufen ist. Das ist heute nicht mehr so, und das hängt auch mit der intermedialen Wirkung zusammen, die wir jetzt erleben.
Kafka ist absolut angesagt, Kafka ist cool. Wird ihm das eigentlich gerecht? Oder wird da gerade ein falsches Bild von ihm vermittelt?
Stach: Ich würde eher sagen, dass im Moment ein falsches Bild korrigiert wird. Auch das Interesse an der Person hat jetzt sehr stark zugenommen. Früher hat man immer gesagt, dass Kafka so ein depressiver Mensch war, der eigentlich nicht viel erlebt hat. Ich habe in den 90er-Jahren zum Beispiel Fernsehredakteure gefragt, ob man nicht mal eine richtig gute Kafka-Doku machen könnte, und die Antwort, die ich damals bekommen habe, war: Kafka? Was sollen wir denn da zeigen? Der saß doch sein ganzes Leben lang nur am Schreibtisch. Dieses Bild von Kafka hat sich total verändert. Viele Menschen wissen heute, dass er sehr witzig und intelligent war und als scharfsinniger Beobachter auf die Probleme seiner Zeit reagiert hat. Wir merken jetzt auch viel deutlicher, dass seine Zeit sehr wohl etwas mit unserer Zeit zu tun hat und dass das nicht einfach Geschichte ist.
Was würde er wohl darüber denken? Wäre es ihm recht gewesen, so im Mittelpunkt zu stehen?
Stach: Kafka war ein sehr diskreter Mensch, und er hat sich auch notorisch selbst unterschätzt, jedenfalls über die größte Zeit seines Lebens hinweg. Ich glaube, es wäre ihm nicht recht, zur Ikone zu werden. Er würde es vielleicht als Druck empfinden und würde sich wahrscheinlich an irgendeinem Punkt zurückziehen müssen. Diese Art von Popularität kannte man damals gar nicht. So eine Art von Weltruhm gab es erst im Kino; Fernseh- und Kinostars, diese Art von populären Ikonen hat es zu Kafkas Zeit nicht gegeben. Das wäre für ihn eine radikal neue Erfahrung, die ihm wahrscheinlich auch Angst machen würde.
Glauben Sie, dass so ein Kafka-Jahr langfristig etwas bringt? Ist das jetzt nur ein momentanes Phänomen - und in zwei Jahren ist es wieder der alte Kafka, der in den Büchereien und in den Regalen steht?
Stach: Das bezweifle ich sehr. Eine Zeitlang hatte ich auch die Befürchtung, dass das passieren könnte, dass die Menschen vielleicht sogar am Ende eines Jubeljahres so eine Art Überdruss an Kafka bekommen könnten. Aber nach der Art der Reaktion zu urteilen, die ich vom Publikum erlebe, und aufgrund der Offenheit der Leser für neue Leseerfahrungen würde ich sagen, dass das so nicht stattfinden wird. Das wird das Kafka-Bild dauerhaft verändern, da bin ich mir ziemlich sicher. Auch dadurch, dass es noch weitere Projekte gibt, die noch gar nicht abgeschlossen sind. Die polnische Regisseurin Agnieszka Holland arbeitet zum Beispiel immer noch an einem Kafka-Film, auf den wir alle gespannt sind: ein Biopic, das wahrscheinlich Ende des Jahres oder vielleicht erst zur nächsten Berlinale vorgestellt wird. Es gibt auch noch weitere Projekte, die erst in ein, zwei Jahren realisiert werden. Wir dürfen davon ausgehen, dass das am Ende dieses Gedenkjahres nicht einfach abbrechen wird.
Über das Gedenkjahr hinaus: Was ist Kafkas Leistung? Was hat er zum Beispiel für die Literatur getan? Was bleibt?
Stach: Kafka ist weltweit der einflussreichste Schriftsteller. Es gibt doch kaum einen berühmten Schriftsteller, egal auf welchem Kontinent, der nicht einen Kafka gelesen und sich damit auseinander gesetzt hat. Weil Kafka als Erster bestimmte Themen und neue Erzählmöglichkeiten versucht und in Literatur verwandelt hat. Er hat Bilder erfunden, die es so vorher noch nie gegeben hat. Er hat also Maßstäbe gesetzt, die neu waren, er hat die Messlatte für Schriftsteller in gewissem Sinne höher gelegt. Diese Maßstäbe werden sicherlich weiter gelten. Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass Kafka in 50 oder 100 Jahren noch gelesen wird und als ein Klassiker gelten wird, der erstaunlicherweise keine Patina ansetzt. Das ist eines der größten Rätsel bei Kafka: ein Autor, der zwar inzwischen zum Denkmal geworden ist, dessen Werke aber trotzdem nicht zu altern scheinen.
Das Interview führte Julia Westlake.