Daniel Kehlmann über Kafka: "Wirkungsreichster Schriftsteller des 20. Jahrhunderts"
In der ARD Mediathek steht die ARD/ORF-Mini-Serie "Kafka". Das Drehbuch haben Schriftsteller Daniel Kehlmann und Ko-Autor und Showrunner David Schalko verfasst - mit Beratung des Kafka-Biografen Reiner Stach. Ein Gespräch über den Schriftsteller und die Serie.
Warum der berühmte Autor noch 100 Jahre nach seinem Tod am 3. Juni 1924 universell so wichtig ist - weit über den deutschsprachigen Literaturraum hinaus - erläutert Daniel Kehlmann im Gespräch mit NDR Kultur.
Vor 100 Jahren ist Franz Kafka gestorben. Was macht ihn bis heute so interessant, so spannend, dass man ihm als Person und seinem Werk eine Fernseh-Mini-Serie widmet? Er wird noch so oft gelesen, seine Stücke auf Bühnen aufgeführt, über ihn erscheinen neue Graphic Novels, neue Kinofilme, Ausstellungen ...
Daniel Kehlmann: Wie sich jetzt immer mehr in den letzten Jahrzehnten abgezeichnet hat, ist er der wirkungsreichste und berühmteste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Mit dem Begriff Kafka oder kafkaesk, auch mit seinem Foto und seinem Bild, verbinden Menschen in der ganzen Welt etwas, die ihn zum Teil nie gelesen haben. Er hat wirklich nicht nur die Literatur des 20. Jahrhunderts geprägt und des 21. auch. Er hat eine ganze Weltauffassung geprägt. Die zu tun hat mit Technologie, mit der Falle der Technologie, der Falle der Bürokratie. Mit dem Überfordert-Sein des Einzelnen gegenüber der gewaltigen lastenden Übermacht des Staates oder der großen Strukturen der Gesellschaft. Wer immer in so eine Gemütslage kommt, kann sich auf Kafka berufen oder eben dadurch, dass Kafka das so gültig beschrieben hat, sich auch verstanden und getröstet fühlen. Getröstet dadurch, dass Kafka das verstanden und in gültige erzählerische Bilder gefasst hat.
Mit unserer Serie wollten wir erzählen: Woher kommt diese gewaltige Literatur? Wie entsteht die aus einem einfachen Prager Angestelltenleben im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts? Wie führt der Alltag dieses Lebens zu dieser Literatur? Darum geht es eigentlich.
Der Mensch ist mir in der Serie viel verständlicher geworden dadurch, dass ich viel erfahren habe. Das ist wahrscheinlich auch auf die akribische Recherche von Reiner Stach mit zurückzuführen, wie und was Franz Kafka gespeist hat, wie er sich morgens sportlich bewegt hat. Welche Kaubewegungen, körperliche Beschwerden er hatte. Wie tief mussten Sie fürs Drehbuch in seine Vita eintauchen? Und wie sehr ist Kafka Ihnen jetzt nähergekommen?
Kehlmann: Er ist mir sehr nahegekommen, aber Sie haben mit Recht auf Reiner Stach verwiesen. Ich musste nicht nochmal Kafka als Mensch und als Figur recherchieren, weil Stach das 30 Jahre lang getan hat. Ich habe nicht versucht, darüber hinaus noch etwas herauszufinden. Ich hatte Stach an meiner Seite. Nicht nur für Fragen, sondern auch für eine sehr aktive, hilfreiche Beratung. Und dann das Werk, aber vor allem die Briefe von Kafka waren für meine Arbeit sehr wichtig. Zum Beispiel die Folge fünf, die sich vollständig auf einem langen Gang durch den Wald zwischen Kafka und Milena Jesenská abspielt: Das fußt sehr auf Kafkas Briefen an Milena. Ihre Briefe an Kafka haben ja leider nicht überlebt.
Es ist die romantischste Folge von allen. Wie sind die sechs Kapitel, sehr unterschiedlich in Form und Erzählweise, aufgebaut?
Kehlmann: Das erste Kapitel heißt "Max". Da geht es um Kafkas besten Freund Max Brod, der Kafka, wie wir ihn kennen, überhaupt erst ermöglicht hat. Weil er die Entstehung des Werkes ermutigt und begünstigt und die Publikation der wenigen Bücher ermöglicht hat, die Kafka veröffentlicht hat. Weil er eben auch das Werk vor der Vernichtung gerettet hat, indem er sich geweigert hat, es zu vernichten und es dann herausgegeben hat.
Die zweite Folge heißt "Felice". Da geht es um seine Verlobte Felice Bauer und die lange schwierige Geschichte ihrer "Fernbeziehung", so würde man im heutigen Ausdruck sagen. Die dritte Folge heißt "Familie", da geht es zur Hälfte um das Verhältnis zu seinem Vater und seinen Schwestern und zum anderen Teil um das Verhältnis zu seiner anderen Familie. In gewisser Weise also zum Zionismus und zu dem Judentum, dem sich Kafka doch sehr verbunden gesehen hat. Das ist etwas, was man in den 50er- und 60er-Jahren der Interpretation gern ein bisschen nach hinten gestellt hat, besonders in Deutschland, aber was Reiner Stach sehr stark herausgearbeitet hat: diese Verbindung Kafkas zum Judentum und auch zur Bewegung des Zionismus.
In der vierten Folge "Das Büro" geht es um Kafkas Arbeit in der Versicherung, wo er entgegen seiner eigenen Darstellung überhaupt nicht unterdrückt, sondern im Gegenteil, ein von allen hochgeschätzter Mitarbeiter war, der unter sehr angenehmen Umständen gearbeitet hat. Das ist die komödiantischste Folge, weil sie so viele Vorurteile widerlegt oder ihnen widerspricht.
Die fünfte Folge heißt "Milena", da geht es um seine Beziehung zu Milena Jesenská. Die ist in Echtzeit an einem Gang durch den Wienerwald zwischen den beiden Figuren gedreht. Die letzte Folge heißt "Dora". Da geht es um seine Beziehung zu seiner letzten Freundin und Lebensgefährtin Dora Diamant. Und natürlich um das Schloss. Diese große, gewaltige, Parabel-artige Geschichte, die er am Schluss seines Lebens geschrieben und damit in gewisser Weise sogar seinen eigenen Tod in Worte gefasst hat.
Wie viel Original Kafka-Text ist in den Dialogen, im Kommentar vom Erzähler?
Kehlmann: Es ist sehr viel Original drin, aber das das muss einen nicht beschäftigen. Man kann das als eine, tatsächlich in diesem Fall wahre Geschichte wahrnehmen. Da fühle ich mich auf sehr sicherem Boden, auch wenn ich einen Dialog nacherfunden habe, weil ich eben Reiner Stach als Berater hatte. Stach hatte Vetorecht. Alles, was ihm nicht gefallen hat, ist nicht in der Serie. Stach hat öfter mal zu mir gesagt: "Das musst du anders formulieren. Das hätte Kafka so nicht gesagt." Und dann habe ich das natürlich geändert. Man kann dieser Serie als Darstellung einer Lebensgeschichte vertrauen.
Mögen Sie vielleicht noch etwas mehr zur Sprache, zu den vielen verschiedenen gesprochenen Sprachen und Akzenten erzählen? Wie Kafka geschrieben und gesprochen hat? Welches Deutsch sprechen Joel Basman und David Kross als Franz Kafka und Max Brod?
Kehlmann: Was die Akzente angeht, so haben wir uns gegen Pragerdeutsch entschieden, das damals viele gesprochen hätten. Das wäre heute sehr befremdlich gewesen und hätte für die meisten Zuschauer enorm künstlich geklungen. Es wäre auch für die Schauspieler sehr künstlich gewesen, weil das eben ein Akzent ist, den man nirgendwo mehr hört, leider, den sie völlig synthetisch hätten lernen müssen.
Daher haben wir uns entschieden, es Akzent-mäßig etwas mehr ins Österreichische zu verlagern. "Enthanseatisierung" hat David Schalko das genannt. Das Prag Kafkas gehörte zur österreichischen Monarchie. Man konnte diesen Wiener Tonfall sehr viel hören. Kafka selbst spricht nicht wienerisch. Aber Max Brod spricht ein kleines bisschen wienerisch bei uns. Kafka spricht einen speziellen, sonderbaren Tonfall, gar nicht so sehr Akzent, den Joel Basman sich dafür zurechtgelegt hat, in langer intensiver Arbeit an der Rolle, den wir völlig überzeugend fanden und Stach völlig überzeugend fand. Ich muss überhaupt sagen, unabhängig von dem Akzent, wie Joel Basman sich diese Rolle erarbeitet hat: So etwas habe ich noch nie gesehen. Für mich ist es wirklich so, nachdem ich diese Serie jetzt oft gesehen habe, ich kann mir Kafka gar nicht mehr anders vorstellen als mit dem Gesicht von Joel Basman. Das ist ein wunderlicher Effekt des Ganzen. Aber Joel ist so gut, dass einfach er die Imagination Kafkas, die man hat, völlig übernimmt.
Diese Serie lässt einen auch hoffen: Es gibt wohl einige Kilometer Material über Kafka und möglicherweise dazwischen noch Originaltexte von Kafka in deutschen Archiven?
Kehlmann: Es gibt neun Kilometer Akten von Unterlagen, die die Gestapo konfisziert hat. Das sind neun Kilometer. Irgendwo darin, da stimmen Reiner Stach und auch Hartmut Binder überein, der einer der wichtigsten Kafka-Philologen der Welt ist, spricht Einiges dafür, dass bei Kafkas letzter Lebensgefährtin Dora Diamant mehrere von Kafka vollgeschriebene Hefte konfisziert worden sind. Die müssten sich in diesem gewaltig großen Korpus noch nicht erschlossener, von der Gestapo konfiszierter Unterlagen befinden, die heute im deutschen Bundesarchiv liegen. Ob das stimmt, kann ich nicht beurteilen. Aber es ist eine Art kafkaeske Pointe, dass es sein kann, dass Kafkas letztes Werk tatsächlich in einem Archiv verschollen ist.
Der Umstand, dass die Kafka-Forscher das für möglich halten, reicht mir völlig, um das in die Serie einzubauen. Aber es wäre natürlich unglaublich, wenn es stimmt - und wenn diese Hefte eines Tages gefunden werden und es vielleicht plötzlich einen vierten Roman von Kafka gibt. Es wäre der größte Fund, der überhaupt in der Weltliteratur gerade möglich wäre. Nur ein neues Stück von Shakespeare wäre eine noch größere Sensation.
Wann sind Sie Kafka das erste Mal begegnet?
Kehlmann: Wir haben natürlich in der Schule irgendwann "Die Verwandlung" gelesen und andere Geschichten von ihm. Ich war enorm beeindruckt. Das kann gar nicht anders sein. Er war nie für mich ein Schriftsteller, den ich irgendwie nachmachen oder imitieren wollte, weil er so einzigartig ist. Und ist so speziell und isoliert idiosynkratisch, dass man ihn sich nicht wirklich zum Vorbild nehmen kann. Man kann von Kafka in Hinsicht der Weltsicht viel lernen, aber nicht von der Literatur. Die ist so eigentümlich, niemand kann Kafka außer Kafka! Wenn ich ihn in der Serie habe reden lassen, wenn er etwas kompliziertere Dinge sagt, musste ich die immer aus den Briefen oder Tagebüchern entnehmen. Man kann Kafkas Sprache oder Denken nicht simulieren. Sie ist so überraschend und auch so im guten Sinn schräg und versponnen, wie Kafka sich ausdrückt in den Briefen. Das kann man nicht nachmachen.
Inwieweit waren Sie am Set und haben vielleicht überprüft, wie etwas sprachlich geklungen hat?
Kehlmann: Ich durfte Arthur Schnitzler spielen und hatte daher einen Drehtag. Aber ansonsten habe ich mich am Set nicht eingemischt und war auch nur ein paarmal da. Am Set ist der Regisseur zuständig, der Autor steht allen nur im Weg. Ich weiß genug vom Film, um das genau zu wissen.
Das Gespräch führte Patricia Batlle, NDR Kultur.