Klaus-Michael Bogdal © picture alliance / ZB Foto: Marc Tirl
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AUDIO: Gedanken zur Zeit: Wirklich "kein Platz für Antiziganismus"? (11 Min)

Wirklich "kein Platz für Antiziganismus"? Zum Internationalen Tag der Rom*nja und Sinti*zze

Stand: 08.04.2023 06:00 Uhr

Hat Bundeskanzler Scholz Recht, wenn er sagt: "Für Antiziganismus ist in unserer Gesellschaft kein Platz"? Die Frage stellt sich am Internationalen Roma-Tag besonders dringlich. Ein Essay von Klaus-Michael Bogdal.

von Klaus-Michael Bogdal

2011 erschien im Suhrkamp Verlag mein Buch "Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung". Die Resonanz erstaunte mich. Die Anzahl der Besprechungen in den Medien war überwältigend. Das Interesse bei den Organisationen der Sinti und Roma und im Raum der Politik hält seitdem unvermindert an. Der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung vor zehn Jahren machte das Buch auch international bekannt. Das Thema befand sich zu diesem Zeitpunkt in der Hierarchie öffentlicher Debatten auf den unteren Plätzen. Ganz oben offenbarte Günter Grass Israel-Gedicht "Was gesagt werden muss" gerade die Versäumnisse intellektueller Auseinandersetzung mit dem Holocaust in Deutschland. Da schien es fast überraschend, dass 2012 endlich das Berliner Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas eingeweiht werden konnte.

Diesem Ereignis waren jahrelange, von mangelndem Interesse und Abwertungen entstellte Auseinandersetzungen vorangegangen. In der jungen Bundesrepublik wurde die genozidale Dimension der NS-Politik gegen Sinti und Roma angezweifelt und verschwand bald vollständig aus der offiziellen Erinnerungskultur. Nach zähem Ringen hatten sich zum ersten Mal die Betroffenen selbst bei der Gestaltung dieses beeindruckenden Denkmalensembles in der Nähe des Bundestags durchsetzen können. Die Anwesenheit der höchsten politischen Repräsentanten der Bundesrepublik bei der Einweihung signalisierte auf symbolischer Ebene die Anerkennung der Minderheit und ihrer Leidens- und Verfolgungsgeschichte. Sie weckte bei ihnen die Hoffnung auf ein normales, von Diskriminierung freies Leben in ihrem Land, das sich jetzt einem weiteren dunklen Kapitel seiner Geschichte zu stellen schien.

Auf jede positive Veränderung folgt eine Negation

In der Tat markierte dieses Ereignis den Beginn einer positiven Entwicklung. Für sie stehen die Anerkennung als nationale Minderheit in Schleswig-Holstein, der Staatsvertrag in Baden-Württemberg, die offizielle Kenntnisnahme des Internationalen Roma-Tags und nicht zuletzt die Einsetzung einer "Unabhängigen Kommission Antiziganismus" durch die Bundesregierung 2019. Doch im gleichen Zeitraum ließ und lässt sich eine bedrohliche Tendenz beobachten. Man könnte sie provisorisch als Dialektik zwischen staatlichen Antidiskriminierungsmaßnahmen und einem beinahe proportional dazu wachsenden Antiziganismus, Rassismus und Antisemitismus in der Gesellschaft bezeichnen. Auf jede positive Veränderung folgt eine Negation, die von der Missachtung etwa von Sprachregelungen bis zur offenen Gewalt reicht. Das hatte es, was Sinti und Roma und Juden betrifft, schon einmal als Reaktion auf die Emanzipations- und Demokratiebewegungen vor 1848 gegeben, als einzelne Länder - das Deutsche Reich existierte noch nicht - bestimmte Gesetze und Rechtsvorschriften wie das Staatsbürgerrecht und Gewerbeordnungen liberalisierten.

Cover: Klaus-Michael Bogdal - Europa erfindet die Zigeuner © Suhrkamp Verlag
Klaus-Michael Bogdals Buch "Europa erfindet die Zigeuner" wurde mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet.

Die Unzufriedenheit mit einer drohenden Gleichbehandlung äußerte sich vehement in lokalen Schikanen und Beschwerden aus der Bevölkerung. Im öffentlichen Diskurs beharrten Autoren darauf, dass Juden und diejenigen, die sie als "Zigeuner" bezeichneten, Ausländer und "Gelichter" ohne Rechtsanspruch seien. Die staatlichen Institutionen reagierten auf diesen Widerstand rasch und gerne. Mit gruppenbezogenen Sondergesetzen und -regelungen unterhöhlten sie die allgemeine Gleichstellung: eine Praxis, die auch im 20. Jahrhundert bis in die 1970er-Jahre fortgesetzt wurde. Wenigstens diese Praxis existiert heute nicht mehr. Doch während die Bundesregierung 2022 zum ersten Mal einen Beauftragten gegen Antiziganismus berief und demokratische Parteien Sinti und Roma auf ihre Kandidatenlisten setzen, erreichte gleichzeitig die Zahl der gemeldeten Fälle von Diskriminierung durch Beschimpfung, Ausgrenzung und Gewalt ihren bisherigen Höchststand.

Unsere Gesellschaft hat die Fähigkeit zur De-Zivilisierung nicht verloren

Welchen Wert hat dann noch die Aussage von Bundeskanzler Olaf Scholz, "Für Antiziganismus ist in unserer Gesellschaft kein Platz", in einer Mitteilung zum Roma-Tag des gleichen Jahres? Sein Lob des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, dieser habe gezeigt, "wie die Kultur der Sinti und Roma unser Land jahrhundertelang mitgeprägt hat und auch heute bereichert", teilen nicht mehr, sondern immer weniger Menschen in Deutschland. In den sogenannten sozialen Medien weht der Wind aus einer anderen Richtung. Dort kann man über Zuwanderer aus EU-Staaten wie Bulgarien lesen: "Bald werden sie auch in euren Vorgärten sein und eure Gärten und Keller aufbrechen, euch bedrängen und bedrohen! Wir müssen handeln, solange es noch geht." Allein die Vorstellung von Nähe oder gar eines Zusammenlebens ist hier in höchstem Maße emotional aufgeladen. Das äußert sich durch Abwehr, Ausgrenzung und Verfolgung. In der Abwehrhaltung verbinden sich Vermischungs- und Überwältigungsängste, Kontroll- und Ordnungswahn und Gewaltfantasien zu einem gefährlichen politischen Sprengstoff. Wir haben es hier also mit mehr als gewöhnlichen Vorurteilen zu tun.

Die Resistenz gegen elementare Ideen von Gleichheit und Menschenwürde lässt uns auf erschreckende Weise erkennen, dass politische Ordnungsvorstellungen, die schon einmal demokratische Organisationsformen zerstört haben, nichts von ihrer Anziehungskraft und Wirkungsmacht eingebüßt haben. Trotz historischen Wissens über die katastrophalen Folgen totalitärer Herrschaft, trotz Aufklärung und Werteerziehung hat auch unsere Gesellschaft die Fähigkeit zur De-Zivilisierung nicht verloren. Wenn es keinen Platz für Antiziganismus gibt, weshalb nimmt man es dann hin, dass ukrainische Roma, die sich auf der Flucht vor den russischen Invasoren befinden, in den Zügen auf dem Weg nach Deutschland aussortiert oder auf Abstand gehalten werden? Ein Grund ist darin zu suchen, dass sich anders als beim Antisemitismus zivilgesellschaftliche Stoppregeln, die den weiterhin unverhohlen gegen Roma geäußerten Hass zurückdrängen könnten, bisher nur sehr schwach entwickelt haben.

Medienwirksame Symbolpolitik statt konkreter Veränderungen

Es mag beruhigend wirken, wenn der Bundeskanzler am Roma-Tag verkündet: "Die Bundesrepublik geht entschlossen gegen jede Form von Rassismus und Antiziganismus vor." In einer aktuellen, an die demokratischen Bundestagsfraktionen gerichteten Stellungnahme bestreiten die ehemaligen Mitglieder der Unabhängigen Kommission Antiziganismus diese Behauptung vehement. Sie bemängeln, dass keine der von ihnen 2021 vorgelegten Handlungsempfehlungen substantiell umgesetzt worden sei. Nicht einmal die Einrichtung eines Sonderfonds für jene Überlebenden des Völkermords, die bisher keine oder nur eine geringfügige Entschädigung erhalten haben, wurde ins Auge gefasst. Statt konkret zu handeln, setzt die neue Regierungskoalition wie in anderen Bereichen auch auf eine medienwirksame Symbolpolitik teilnehmenden Verstehens.

Diese Haltung wirft einen Schatten auf die Gedenkroutinen, mit denen der Internationale Roma-Tag von offizieller Seite begangen wird. Ja, er ist in der medialen Öffentlichkeit angekommen. Die Abendnachrichten haben ihn in ihre Prioritätenliste aufgenommen und Referenten erinnern die Spitzen der Politik zuverlässig an das Datum. An ihm zeigt man sich auch mal gerne zusammen mit Romani Rose, Zoni Weisz und Marianne Rosenberg oder lauscht Riccardo M. Sahiti und seinen Sinti und Roma Symphonikern. Es ist leicht zu prognostizieren, dass auch in diesem Jahr keiner der Feiertagsredner die Gelegenheit nutzen wird, um konkrete Schritte anzukündigen, die zu einer Verbesserung der Situation von Sinti und Roma führen. Die Kommission hatte den Begriff "nachholende Gerechtigkeit" ins Spiel gebracht, um auf die enge Verflechtung der gegenwärtigen Situation mit dem nach 1945 an den Überlebenden und deren Nachkommen begangenen Unrecht hinzuweisen. Von dieser Position sind die politischen Entscheidungsträger weit entfernt, weil man die nachholende Gerechtigkeit letztlich immer noch nicht als historische Verpflichtung ernst nimmt, sondern sich nur auf Druck der Organisationen der Sinti und Roma kleine Schritte nach vorne bewegt.

Der Internationale Roma-Tag gewinnt immer mehr an Bedeutung

Eines aber hat sich im Verlaufe der letzten zehn Jahre wirklich verändert. Lange Zeit stand der 2. August, der Europäische Holocaust-Gedenktag für Sinti und Roma, ein Tag der Trauer und der Erinnerung an die Opfer, als Gemeinschaft stiftendes Ereignis im Vordergrund. Das wird er noch für viele Generationen bleiben. Doch inzwischen wird auch der Internationale Roma-Tag von immer mehr Sinti- und Roma-Gemeinschaften angenommen. Er wird als Gelegenheit betrachtet, auf vielfältige Weise zusammen mit Gästen das Eigene zu feiern: von der Sprache über Musik, Kunst, Theater und Tanz bis zur Küche. Zunehmend erlangt der Roma-Tag eine dem Neujahrsfest Newroz der Kurden vergleichbare Bedeutung, auch in politischer Hinsicht. Dieser Tag wird getragen von dem Selbstbewusstsein, einer lebendigen, sich weiterentwickelnden Gemeinschaft anzugehören, die sich nicht mehr verstellen oder verstecken will, um von der Mehrheit akzeptiert zu werden. An diesem Tag zeigt man, wer man ist und wie man lebt und macht erfahrbar, dass Unterschiede ein Gewinn für die europäischen Gesellschaften sein können.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Gedanken zur Zeit | 08.04.2023 | 13:00 Uhr

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