Missbrauch in der evangelischen Kirche: Opfer klagen an

Stand: 25.02.2025 12:37 Uhr

In der evangelischen Kirche hat es ähnlich viele Missbrauchsfälle gegeben wie in der katholischen Kirche, das zeigt die unabhängige ForuM-Studie. Die Kirche hat Aufarbeitung versprochen - aber hat sie auch Wort gehalten?

von Gesa Berg

Einige ihrer schrecklichen Erinnerungen lagern noch auf dem Dachboden. Katharina Kracht ist als Jugendliche sexuell missbraucht worden - von einem evangelischen Pastor. Zehn Jahre lang. Mit 21 wurde sie sogar schwanger, er drängte sie zum Abbruch. Sie kam als Konfirmandin neu in die Gemeinde, war begeistert davon, wie locker und fortschrittlich ein Pastor sein kann. Er nahm sich viel Zeit für die Jugendarbeit. "Das wirkte super engagiert", erzählt Kracht, "aber am Ende hat es bei allen diesen Gelegenheiten Übergriffe gegeben. Immer."

Katharina Kracht war damals in der Pubertät, unsicher und einsam, auf der Suche nach Anerkennung und Zuwendung. So beschreibt sie es in ihren Tagebüchern. "Es war ein Geheimnis und das musste ich schützen. Er hat mir gesagt, er verliere sonst seinen Job und alles. Ich weiß noch genau, dass ich geschrieben habe: 'Nach etwa einer Minute hat er mich gestreichelt. Beim Umarmen hat er mir leise 'Ich lieb Dich' gesagt.' Und ich habe das alles als christliche Nächstenliebe aufgefasst. 'Und genau das ist es, was trösten kann und Halt geben kann, das Gefühl, dass ich liebe und geliebt werde.' Das hat er ausgenutzt."

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Schuldumkehr bei Missbrauch?

Dass es Missbrauch war, hat Katharina Kracht erst viel später verstanden. Heute weiß sie, Täter wie dieser Pastor, arbeiten mit langen Anbahnungszeiten. Sie manipulieren ihre Opfer, verstricken sie in Abhängigkeiten. Aber den Pastor anzeigen? Es gab damals keine offizielle Anlaufstelle bei der Kirche.

Als der Täter 2013 starb, lobte ein Nachruf sein "Engagement für Jugendliche". Für Kracht war das unerträglich. Sie wandte sich an die Gemeinde. Mittlerweile haben sich 13 weitere Opfer gemeldet: "Ich bin sehr gut unterstützt worden von der Pastorin vor Ort. Sie hat echtes Interesse gezeigt, die Vorkommnisse aufzuarbeiten. Später wurde mir berichtet, dass zwei Personen, die früher im Kirchenvorstand waren, gesagt haben: 'Ja, aber wieso? Das wussten doch alle. die hätten doch 'Nein' sagen können'. Was ja heißt, nicht der Täter, der da Minderjährige sexuell missbraucht hat, hätte sein Verhalten ändern sollen, sondern die Minderjährigen. Das ist Schuldumkehr."

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Ermittelte Fälle der ForuM-Studie: "Die Spitze der Spitze des Eisberges"

Katharina Kracht will aufklären. Deshalb arbeitete sie auch bei der ForuM-Studie mit, die die evangelische Kirche in Auftrag gegeben hat. Die stellt klar: Bei den Protestanten gab es mindestens genauso viele Missbräuche, wie in der katholischen Kirche. 2.225 Betroffene und 1.259 Täter. Und das sei nur die "Spitze der Spitze des Eisberges", heißt es in der Studie. Jens Lehmann, der in der Landeskirche Hannovers für die "Fachstelle Sexualisierte Gewalt" zuständig ist, kommentiert: "Diese Aussage, das sei nur die 'Spitze der Spitze des Eisberges', hat mich schockiert. Aber zur Wahrheit gehört auch, dass das Ergebnis der Studie nicht wirklich überraschend war, weil wir wussten, dass es sexualisierte Gewalt im kirchlichen Kontext gegeben hat."

Insgesamt gab es hier mindestens 190 Fälle, darunter auch der Missbrauch von Katharina Kracht. "Seit der ForuM-Studie haben wir viel geändert. Wir haben flächendeckend Präventionskonzepte eingeführt - in den Kirchenkreisen, in den Kirchengemeinden. Wir haben uns auf den Weg gemacht, aber wir sind noch längst nicht am Ende. 2026 wollen wir soweit sein, dass alle Kirchengemeinden und Kirchenkreise eigene Präventionskonzepte, also Schutzkonzepte, eingeführt haben."

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Ziel der Präventionskonzepte ist es, für das Thema sexualisierte Gewalt zu sensibilisieren, damit Mitwisser nicht länger schweigen und sichere Umfelder geschaffen werden. Außerdem soll es neutrale Ansprechpersonen geben: in Gemeinden und in der Diakonie, zum Beispiel in Kindergärten und Jugendcamps. In diesem Bereich tut die evangelische Kirche viel, dafür hat sie auch Personal aufgestockt. Aber bei der Aufarbeitung vergangener Missbräuche strengt sie sich zu wenig an, sagen die Opfer, so auch Katharina Kracht und Jakob Feisthauer. Sie haben zusammen die Initiative "Vertuschung beenden" gegründet und machen einen wöchentlichen Podcast. Mit großer Resonanz - Betroffene aus ganz Deutschland melden sich. 

Fast alle Betroffenen sagen, dass die Kirche zu wenig für sie tut. Selbst nach der ForuM-Studie. "Ich kritisiere am meisten die Haltung", so Jakob Feisthauer, "und dass ich den Eindruck habe, dass wir als Betroffene in den allermeisten Fällen nicht ernst genommen werden. Dass alle Versuche oder Bewegungen in der Kirche, die irgendwie in Richtung Veränderung gehen, vor allem dazu gemacht sind, nach außen zu zeigen: 'Wir tun etwas!' Aber tatsächlich kommt davon bei uns Betroffenen nichts an. Teilweise sind Rückschritte erkennbar."

Jens Lehmann von der Landeskirche Hannover sagt dazu: "Wir haben es jahrelang versäumt, uns mit Betroffenen auseinanderzusetzen, das ändert sich gerade und das ist ein Zeichen des Kulturwandels. Wir hören zu, wir schenken Glauben, wir weisen nicht zurück, und wir wollen uns mit Betroffenen unmittelbar treffen, das Gespräch suchen. Ich persönlich will das, weil ich denke, nur so können wir angemessen mit diesen Ereignissen überhaupt nur umgehen."

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Spätfolgen des Verbrechens

Katharina Kracht und Jakob Feisthauer wünschen sich eine demokratisch gewählte Betroffenenvertretung, die sich für alle Opfer einsetzt. In ihrem Podcast kritisieren sie außerdem, dass viele Empfehlungen aus der ForuM-Studie nicht beachtet würden, die die Forscher für die evangelische Kirche entwickelt hatten. Sie fordern eine zuverlässige, transparente Aufarbeitung, auch für ihre eigenen Fälle, so Katharina Kracht: "Es gab ein ganz gutes erstes Treffen, aber danach ist es nicht weitergegangen. Ich habe irgendwann Geld bekommen, eine Anerkennungsleistung. Dabei hatte ich gedacht, es würde jetzt wirklich was passieren - Aufklärung. Doch es ist nichts passiert. Zum Beispiel sind die Kirchengemeinden nicht informiert worden, wo der Täter vorher war. Allein das hätte ich einfach erwartet." Damit sich weitere Betroffene melden können und um für die Zukunft zu lernen. 

Die evangelische Kirche hat Katharina Kracht 35.000 Euro als sogenannte Anerkennung ihres Leids gezahlt. Das reiche bei Weitem nicht, sagt sie. Denn ihren Job als Lehrerin hätte sie zum Beispiel immer nur in Teilzeit ausüben können - auch eine Spätfolge des Verbrechens, das ihr in der evangelischen Kirche widerfahren ist.

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