Sexualisierte Gewalt: "Wir haben als Kirche vielfach versagt"

Stand: 29.01.2024 10:22 Uhr

Eine neue Missbrauchs-Studie erschüttert die evangelische Kirche. Die Arbeit einer unabhängigen Forschungsgruppe listet mindestens 2.225 Betroffene von sexualisierter Gewalt auf. Hier lesen Sie Reaktionen.

Kristina Kühnbaum-Schmidt, Landesbischöfin der Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland, sagte: "Wir haben als Kirche vielfach versagt und sind an Menschen schuldig geworden." Sie empfinde tiefe Scham, hieß es am Donnerstagmittag in einer Mitteilung. "Dass Erwachsenen, Jugendlichen und Kindern im Raum unserer Kirche tiefes Leid zugefügt wurde, dass sie Gewalt und schweres Unrecht erlitten haben, erschüttert mich immer wieder", so Kühnbaum-Schmidt. Sie wolle sich mit der Nordkirche an den Beschlüssen des EKD-Beteiligungsforums orientieren. "Als Nordkirche müssen wir uns ehrlich eingestehen, dass wir von deutlich mehr Fällen als den in der "ForuM"-Studie aufgeführten, ausgehen müssen."

Landesbischof Meister kündigt sorgfältige Analyse an

Für die hannoversche Landeskirche kündigte Landesbischof Ralf Meister nach der Vorstellung der Studie eine sorgfältige Analyse der Ergebnisse an - gemeinsam mit den Betroffenen. "Die Schlussfolgerungen dieser Analyse sind grundlegend für die weitere Umsetzung von Aufarbeitung und Prävention." Für die größte deutsche Landeskirche sind einem Sprecher zufolge bislang 122 bestätigte Fälle oder Verdachtsfälle bekannt. Diese Zahl bilde jedoch "ausdrücklich nur einen Ausschnitt davon ab, wie viele Betroffene seit 1945 in unserer Landeskirche sexualisierte Gewalt erlitten haben", sagte Meister. Es werde deutlich, wie Strukturen gerade in der evangelischen Kirche sexualisierte Gewalt ermöglichten. Bei der Diskussion um Zahlen dürfe zudem der Beitrag von Betroffenen zu der Studie nicht aus dem Blick geraten. "Wir müssen in unserer Kirche weiter an einer Kultur arbeiten, in der sexualisierte Gewalt keinen Raum hat und in der Betroffene ermutigt werden, Unterstützung in Anspruch zu nehmen", so der Landesbischof.

Bischof Adomeit verweist auf "Null-Toleranz-Strategie"

Der Oldenburger Bischof Thomas Adomeit bezeichnete die am Donnerstag in Hannover vorgestellte Studie als "sehr wichtigen Schritt". Die Studie halte den Verantwortlichen in der evangelischen Kirche den Spiegel vor, so Adomeit. Betroffene würden oft "ein Leben lang an den Folgen leiden". Die Kirche in seinem Verantwortungsbereich verfolge "eine Null-Toleranz-Strategie im Blick auf sexualisierte Gewalt. Die Bedürfnisse und Interessen der Betroffenen stehen bei uns im Fokus", sagte Adomeit.

Landeskirche Braunschweig will weitere Akten prüfen lassen

Der Landesbischof der Landeskirche Braunschweig, Christoph Meyns, räumte Versagen im Umgang mit sexualisierter Gewalt ein. "Wir haben in der Vergangenheit entsprechende Taten nicht hinreichend bearbeitet und Menschen vor Übergriffen nicht ausreichend geschützt", sagte Meyns in Braunschweig. Die Studie sei "ein weiterer Meilenstein auf dem Weg zu einer professionellen Aufarbeitung und Prävention sexualisierter Gewalt", so Meyns. Der Landesbischof kündigte an, weitere Akten wie die von Kirchenmusikern und Diakonen zum Zwecke der Aufklärung bereitzustellen. Für seinen Bereich seien bislang rund 2.500 Akten von Pfarrerinnen und Pfarrern aus der Zeit zwischen 1939 und 2021 ausgewertet worden. Von 15 Verdächtsfällen hätten sich acht bestätigt.

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Missbrauchsbeauftragte fordert unverzüglich Konsequenzen

Die unabhängige Missbrauchsbeauftragte des Bundesregierung, Kerstin Claus, erklärte, die Studie könne dabei helfen, die Aufarbeitung von sexueller Gewalt in der evangelischen Kirche zu verbessern und zu professionalisieren. Sie forderte Kirchenleitungen und die Diakonie auf, unverzüglich Konsequenzen aus den Ergebnissen zu ziehen. Es müssten nun schnell einheitliche Regelungen für Entschädigungszahlungen an die Betroffenen, sogenannte Anerkennungsleistungen, geschaffen werden. Der Umgang mit den Betroffenen dürfe nicht davon abhängen, an welche Landeskirche sie sich wenden. Die Studie habe jetzt ergeben, dass die Übergriffe auch im evangelischen Raum keine Einzelfälle und die Täter keine Einzeltäter seien. "Hier schnell zu handeln, ist elementar für den künftigen Schutz von Kindern und Jugendlichen", betonte die Missbrauchsbeauftragte.

Bundesfamilienministerin fordert systematische Aufarbeitung

Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) forderte von der evangelischen Kirche eine systematische Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs. Sie sprach Betroffenen und Opfern ihr Mitgefühl aus. Paus will das Amt der Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung stärken. Ein entsprechender Referentenentwurf sei auf dem Weg und befinde sich in der Abstimmung.

Bundesjustizminister: "Kirchen haben bitterlich versagt"

Auch Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) forderte die evangelische und die katholische Kirche dazu auf, sich für Aufklärung von Missbrauchsfällen, Wiedergutmachung und bessere Prävention einzusetzen. "Es ist und bleibt erschütternd, dass gerade Kirchengemeinden jahrzehntelang Orte des vielfachen sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen waren", erklärte Buschmann am Donnerstag in Berlin. "Die Kirchen haben hier bitterlich versagt." Das Strafrecht gelte für alle - "auch für Pfarrer, Pastoren und andere Mitglieder und Angestellte der Kirche". Staatsanwaltschaften müssten ermitteln, wenn der Verdacht einer verfolgbaren Straftat im Raum steht. "Kirchliche Aufarbeitung ist wichtig - aber sie ist kein Ersatz für staatliche Strafverfolgung, wo diese möglich ist."

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Hallo Niedersachsen | 25.01.2024 | 19:30 Uhr

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