Missbrauchsstudie: Reaktionen aus evangelischen Kirchengemeinden
Wie reagieren Gläubige und engagierte Christen aus der evangelischen Kirche auf die Ergebnisse der ForuM-Studie über den sexuellen Missbrauch in der evangelischen Kirche und der Diakonie seit 1946?
Von der "Spitze der Spitze des Eisbergs" sprachen die Forschenden vergangene Woche, als sie ihre Studie vorgestellt haben. Von mindestens 2.225 Betroffenen gehen die Autorinnen und Autoren der Studie aus.
Missbrauch in der evangelischen Kirche: "Ich habe es fast befürchtet"
Das Sonnenlicht scheint durch die bunten Kirchenfenster in Sankt Marien - einer alten Kirche mitten in der Osnabrücker Altstadt. Doch die Stimmung im Gottesdienst ist nachdenklich, fast bedrückt. Die Ergebnisse der Missbrauchsstudie greift Regionalbischof Selter in seiner Predigt auf. Rund 100 Gläubige hören ihm zu und manche sind bereit, nach dem Gottesdienst zu sagen, wie sie sich damit fühlen: "Ich bin einerseits sehr wütend, ich bin aber auch beschämt und ich muss ehrlich sagen: Ich habe es fast befürchtet, dass es auch in unserer Kirche so etwas gibt." Die evangelische Kirche habe viel zu lange geglaubt, dass sie nur wenig betroffen sei, meint Jürgen Tepel.
Seinen Eindruck teilt auch Sigrid Pees. Sie selbst ist Protestantin, ihr Mann Katholik: "Eigentlich hätte unsere Kirche schon von dem Verhalten der katholischen Kirche lernen können", sagt sie. Sigrid Pees ist entsetzt, dass die Studie nun zeige, wie wenig das geschehen ist. Mehr als 30 Jahre hat sie in Osnabrück als Hausärztin gearbeitet und erlebt, was sexueller Missbrauch mit Menschen macht: "Ich habe mit vielen Menschen gearbeitet, die so ein Trauma hatten. Sie haben dieses Trauma so tief sitzen gehabt, dass sie zum Beispiel nicht mehr heiraten konnten, weil sie nicht mehr zu einer normalen Sexualität gefunden haben. Das ist eine ganz bittere Erfahrung. Wenn unsere Kirche an so etwas auch schuld ist, dann sind wir alle voller Angst und Traurigkeit, dass das nicht abgeändert worden ist und nicht wenigstens früher dazu gestanden wurde, dass solche Schuld zwar menschlich ist, aber nicht verzeihlich, wenn man nicht dazu steht." Das Leid der Opfer müsse dringend anerkannt werden - auch finanziell, fordert Sigrid Pees.
"Die Strukturen müssen aufgebrochen werden"
Die Forschenden kritisieren in ihrer Studie, dass die meisten Landeskirchen keine Personalakten zur Verfügung gestellt haben, um darin nach weiteren möglichen Opfern und Tätern zu suchen. "Es ist mir unbegreiflich. Diese Kirche ist so verliebt in Akten, da wird aus jeder Sache ein Protokoll gemacht - und dann passiert so was", sagt Beate Tenfelde nach dem Gottesdienst in Sankt Marien. Sie fordert mehr Transparenz: "Wir müssen uns selbst überprüfen, ob uns unsere Blase nicht verleitet, manches mit dem Mantel des Schweigens zuzudecken."
Die Ergebnisse der ForuM-Studie empfindet die Protestantin als "Schlag ins Kontor". Erst seit wenigen Jahren engagiert sie sich in der Gemeinde im Kirchenvorstand zusammen mit anderen Ehrenamtlichen. "Ich erlebe sehr ernsthafte, unglaublich engagierte Leute, die auch bereit sind, sich selbst zu überprüfen. Darauf kommt es jetzt nämlich an. Wir haben eine sehr problematische Struktur: 20 Landeskirchen in Deutschland mit entsprechenden Verwaltungen, Superintendenten, einen Regionalbischof, einen Landesbischof - und so geht das immer weiter. Die Strukturen müssen aufgebrochen werden."
Wie kann Missbrauch zukünftig verhindert werden?
Mehr Hierarchie oder weniger, da sind sich die Gottesdienstbesucher hier uneins. Vor Ort in der Gemeinde entstehen aber schon Strukturen, um sexuellen Missbrauch zu verhindern, sagt Ursula Beer. Sie kommt mit ihrem Mann aus der Kirche: "Wir beide haben Schulungen gehabt. Führungszeugnisse müssen vorgelegt werden. Nach der Studie muss wahrscheinlich noch mal alles auf den Prüfstand: Wo müssen wir nacharbeiten, um so etwas zu verhindern? Es ist natürlich schrecklich für die Betroffenen, furchtbar." Auf jeden Fall ist durch die Taten und die schleppende Aufarbeitung viel Vertrauen verloren gegangen.