Kristina Kühnbaum-Schmidt © picture alliance/dpa Foto: Markus Scholz

Sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche: "Ich empfinde tiefe Scham"

Stand: 25.01.2024 18:49 Uhr

Die Landesbischöfin der Nordkirche Kristina Kühnbaum-Schmidt spricht im Interview über die Ergebnisse der aktuellen Studie zu sexualisierter Gewalt in der Evangelischen Kirche und bittet um Entschuldigung.

Kristina Kühnbaum-Schmidt © picture alliance/dpa Foto: Markus Scholz
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von Mischa Kreiskott

Heute ist die Studie zu sexualisierter Gewalt in der Evangelischen Kirche in Deutschland vorgestellt worden. Demnach seien seit 1946 mindestens 2.200 Kinder und Jugendliche in Kirchen und in Diakonie Opfer von sexueller Gewalt geworden.

Frau Kühnbaum-Schmidt, es ist kein angenehmer Tag für die evangelische Kirche. Was geht Ihnen heute durch den Kopf?

Kristina Kühnbaum-Schmidt: Dass Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen im Raum unserer Kirche tiefes Leid zugefügt wurde, dass sie Gewalt und schweres Unrecht erlitten haben, erschüttert mich immer wieder. Ich empfinde darüber tiefe Scham - persönlich und auch stellvertretend für unsere Kirche. Das lässt mir überhaupt keine Ruhe. Denn als Nordkirche und als deren Vorgängerkirchen haben wir vielfach versagt. Wir sind an Menschen schuldig geworden. Im Namen unserer ganzen Kirche bitte ich dafür demütig um Entschuldigung.

Die Macher dieser Studie sagen, die Aufarbeitung sei nur schleppend gelaufen, auch im Vergleich mit der katholischen Kirche. Können Sie diese Kritik verstehen und annehmen?

Kühnbaum-Schmidt: Wir haben als evangelische Landeskirchen und als Nordkirche diese Studie mit in Auftrag gegeben. Wir sind davon überzeugt, dass die Ergebnisse dieser Studie wichtig sind. Wir haben dazu beigetragen, dass diese Studie passieren konnte. Wir haben für diese Studie in sehr großem Maße Personal, Disziplinarakten, Personalakten und Sachakten gesichtet, sortiert, analysiert und in die vom Forschungsverbund vorgegebenen Fragebögen übertragen. Wir müssen uns aber auch ehrlich eingestehen, dass wir von deutlich mehr Fällen ausgehen müssen, als in der "ForuM"-Studie erfasst wurden. Sie sind, so wurde es heute gesagt, die Spitze der Spitze des Eisberges.

Die Studie lehrt uns, dass in unseren Akten nur klar geahndete Fälle dokumentiert sind, jedenfalls bis Mitte/Ende der 90er-Jahre. Das war offensichtlich auch deshalb der Fall, weil bis Mitte/Ende der 90er-Jahre der Schutz der Institution im Mittelpunkt in der Aktenführung stand. Das hat sich verändert und muss sich noch deutlich weiter verändern, damit wir die tatsächlichen Zahlen - und vor allen Dingen den hinter jeder Zahl stehenden, einzelnen Fall von schwerem Leid - wirklich sehen und ihm nachgehen können.

VIDEO: Studie zu sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche (4 Min)

Die Landeskirchen hätten gesagt, sie würden das strukturell und personell nicht schaffen. Da steht man immer ein bisschen unglücklich da. Sie haben den Prozess mit bekommen - warum war es nicht möglich, da tiefer einzusteigen?

Kühnbaum-Schmidt: Es ist richtig, dass die unabhängige Durchsicht aller Personalakten noch ein Desiderat ist. Dabei haben vor allem Fragen des Datenschutzes eine Rolle gespielt. Ich möchte deutlich sagen, dass wir als Kirchen, auch als Nordkirche, ausdrücklich unterstützen, wenn es ein von der Politik vorgegebenes Aufarbeitungsgesetz gibt, das die Möglichkeiten für Aufarbeitung, aber auch Kriterien und nötige Strukturen und Anforderungen klar benennt.

Was glauben Sie, was sind jetzt die nächsten Schritte?

Kühnbaum-Schmidt: Zunächst wird es darum gehen, dass wir die Ergebnisse und Empfehlungen der Studie erst einmal zur Kenntnis nehmen. Ich kann Ihnen versichern, dass wir die Ergebnisse und Empfehlungen der Studie sehr ernst nehmen. Gemeinsam mit Betroffenen müssen wir sie in unserem täglichen Handeln umsetzen und in weitere klare gesetzliche Vorgaben überführen. Dabei werden insbesondere die Beschlüsse des EKD-Beteiligungsforums, bei dem Betroffene entscheidend mitarbeiten und Beschlüsse fassen, auch für uns als Nordkirche entscheidend und leitend sein. Wir werden uns bereits auf unserer nächsten Tagung der Landessynode im Februar diesen Jahres mit der Thematik von Prävention und der Thematik von sexualisierter Gewalt beschäftigen. Außerdem steht die Evaluation unseres Präventionsgesetzes an - übrigens das erste Gesetz einer evangelischen Landeskirche, das sich mit Fragen von Prävention beschäftigt und das seit 2018 in Kraft ist. Auch in diese Evaluation werden die genannten Ergebnisse aus der Studie einfließen.

Heute Morgen haben wir im Programm mit einer Betroffenen gesprochen. Mein Kollege hat sie gefragt, was sie heute nicht hören wolle. Sie hat gesagt: "Sätze wie 'Wir müssen die Zahlen jetzt erstmal verarbeiten bis zur nächsten Synode.'" Was würden Sie ihr entgegnen?

Kühnbaum-Schmidt: Wir möchten die Ergebnisse der Studie ernst nehmen. Das können wir nur, wenn wir sie erstmal lesen - sie wurden heute vorgestellt. Mir ist ganz wichtig, dass ich diese Ergebnisse wirklich zur Kenntnis nehme. Die betroffene Person, die sich heute in der Pressekonferenz geäußert hat, hat das - aus meiner Sicht völlig zurecht - mit Blick auf die November-Synode der EKD gesagt. Das wäre in der Tat ein viel zu langer Zeitraum.

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Sind Sie in direktem Kontakt mit Betroffenen in Ihrem Verantwortungsbereich?

Kühnbaum-Schmidt: Ich habe in meinem ganzen Lebensweg, in meinem ganzen Tätigkeitsbereich als Landesbischöfin und auch als Pastorin an verschiedenen Stellen mit Betroffenen zu tun. Ich hatte Kontakt, als ich in der Beratungsarbeit als Pastoralpsychologin tätig war. Das war vor meiner Zeit in der Nordkirche. Wir haben insbesondere eine intensive Beschäftigung mit der Thematik von Prävention und von sexualisierter Gewalt, wenn wir uns in unseren Leitungsgremien mit all den Maßnahmen und Fakten beschäftigen, die zu diesem Themenkomplex dazugehören.

Was sagen Sie denen, wenn Sie sie vor sich sitzen haben?

Kühnbaum-Schmidt: Zunächst einmal ist es nicht wichtig, dass ich rede, sondern das Entscheidende ist, dass wir Betroffenen zuhören, dass wir ernst nehmen, was sie uns sagen, dass wir hören, was sie uns mitzuteilen haben und dass wir ihre Kompetenz wahrnehmen und nutzen. Ich bin zutiefst dankbar und habe ganz großen Respekt und Hochachtung dafür, dass Menschen trotz des erfahrenen schweren Leides und aufgrund dessen, was sie erlebt haben, dennoch ihre Erfahrungen und Kompetenzen im Blick auf Prävention und Umgang mit sexualisierter Gewalt mit uns teilen. Sie lehren uns, bittere Wahrheiten in aller Klarheit anzuerkennen. Damit bewirken sie Veränderung. Dafür danke ich den betroffenen Personen von ganzem Herzen. Ich sehe mit Hochachtung auf ihren Mut, darüber öffentlich zu sprechen.

Das Interview führte Mischa Kreiskott.

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