VIDEO: Studie zu sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche (4 Min)

Kommentar zur Missbrauchsstudie: Es geht nicht nur um Zahlen!

Stand: 25.01.2024 18:13 Uhr

Die Evangelische Kirche in Deutschland hat heute ihre Studie zu sexualisierter Gewalt in Kirche und Diakonie vorgestellt. Danach sind seit 1946 mindestens 2.225 Kinder und Jugendliche missbraucht worden. Die evangelische Kirche muss endlich die Opfer in den Mittelpunkt stellen, meint Florian Breitmeier in seinem Kommentar.

von Florian Breitmeier

Die evangelische Kirche war lange Zeit mehr ein Schutzraum für Täter als ein Resonanzboden für diejenigen, die missbraucht wurden und darüber mutig sprechen wollten. Es ist deshalb das besondere Verdienst der Betroffenen, die Dimensionen des evangelischen Missbrauchsskandals nun bundesweit sichtbar gemacht zu haben.

Florian Breitmeier © NDR Foto: Christian Spielmann
AUDIO: Kommentar: Evangelische Kirche muss Haltung zu Missbrauchsopfern ändern (2 Min)

Mangelnde Mitarbeit der Landeskirchen

Journalist Florian Breitmeier im Gespräch.
Florian Breitmeier ist Redakteur für die Themen "Religion und Gesellschaft" bei NDR Kultur.

Die von der Kirche in den Archiven ermittelten und den Forschenden zur Verfügung gestellten Daten lassen nur erahnen, wie groß das Ausmaß der Verbrechen tatsächlich ist. Während des laufenden Forschungsprojekts hieß es aus 19 von 20 Landeskirchen, dass aus Zeit- und Personalmangel nicht sämtliche Daten geliefert werden könnten, die die Forschenden haben wollten. Dabei hat die Kirche diese Studie doch selbst gewollt, in Auftrag gegeben und bezahlt! Nur eine Landeskirche lieferte vollumfänglich, was die Forscher wissen wollten. Genau in diesen Daten fanden die Wissenschaftler viele weitere Hinweise auf sexualisierte Gewalt.

Die präsentierten Fallzahlen für alle Landeskirchen und Diakonischen Werke stellen nach Angaben der Wissenschaftler nur "die Spitze der Spitze des Eisbergs" dar. Eine Kirche, die nicht imstande ist, umfassend auf bestimmte Fragen von eigens beauftragten unabhängigen Forschern zu antworten, steht nicht vollumfänglich für schonungslose Aufklärung in eigener Sache. Dabei ist klar: Es geht nicht nur um Zahlen. Es geht um eine klare Haltung. Es geht darum, es ganz genau wissen zu wollen. So schmerzhaft und kompliziert in der Recherche das auch sein mag. 14 Jahre nach Bekanntwerden des Missbrauchsskandals ist das ein desaströses Bild.

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Martin Wazlawik, Koordinator des Forschungsverbundes "ForuM", übergibt bei einer Pressekonferenz eine Studie zum Missbrauch in der evangelischen Kirche an Kirsten Fehrs, amtierende Vorsitzende des Rates der EKD. © dpa-Bildfunk Foto: Julian Stratenschulte

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Das sei nur "die Spitze der Spitze des Eisbergs", hieß es bei der Vorstellung der Studienergebnisse in Hannover. mehr

Betroffene fühlen sich hingehalten

Es gibt Befunde in der Studie, die das protestantische Selbstbild erschüttern: Mehr als 66 Prozent der aktenkundig beschuldigten Geistlichen waren verheiratet, als sie sich erstmals an Kindern und Jugendlichen vergingen. Täter wohnten demnach auch im evangelischen Pfarrhaus und inszenierten nicht selten sehr bewusst ein Familienidyll, damit kein Verdacht geschöpft werden sollte.

Ein weiterer Aspekt der Studie mit Blick auf evangelische Strukturen: Institutionelle Vielfalt und flache Hierarchien können dazu führen, dass Verantwortung hin und her geschoben wird. Entscheidungen werden verzögert, Betroffene hingehalten. Sie fühlen sich ohnmächtig gegenüber der Institution. Das verletzt sie erneut, weil sie oft das Gefühl haben, dass Fälle schnell abgearbeitet werden sollen, anstatt diese transparent aufzuarbeiten. Hier kollidiert das protestantische Selbstbild, die Kirche der Aufklärung zu sein, mit der bitteren Realität.

Missbrauchsopfer in den Mittelpunkt stellen

Natürlich ist auch in der evangelischen Kirche beim Thema Missbrauch und Prävention einiges geschehen: Es gibt Schulungen für Mitarbeitende und Ehrenamtliche, neue Fachstellen in den Kirchenämtern, ein Forum innerhalb der EKD, in welchem Betroffene über Kirchengesetze zum Thema Missbrauch mitentscheiden. Doch muss die evangelische Kirche endlich die Betroffenen sexualisierter Gewalt konsequent in den Mittelpunkt kirchlichen Handelns stellen. Verstärkt auch diejenigen, die der Kirche kritisch gegenüberstehen und ausgetreten sind. Denn es macht einen großen Unterschied, ob Kirche aus den eigenen Strukturen heraus auf das Missbrauchsthema schaut, oder sich ganz bewusst von außen in Frage stellen lässt. Auch durch unabhängige Aufarbeitungskommissionen auf regionaler Ebene.

Es gilt nun, die ForuM-Studie aufmerksam zu lesen. Und dann muss über vieles gesprochen werden: über angemessene Entschädigungszahlungen nach transparenten Standards, über Aufarbeitung, über Täter, Vertuscher und persönliche Konsequenzen.

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Hannover: Detlev Zander, Mitglied im Beirat des Forschungsverbundes und Sprecher der Betroffenenvertretung im Beteiligungsforum der EKD, zeigt das Ergebnis einer Studie zum Missbrauch in der evangelischen Kirche. © dpa-Bildfunk Foto: Julian Stratenschulte

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Kirche zu einem sicheren Ort für Kinder und Jugendliche machen

Für die evangelische Kirche wird das ein schmerzhafter und konfliktreicher Prozess. Der aber ist notwendig. Denn er kann die Kirche zu einem sicheren Ort für Kinder und Jugendliche machen. Wenn Betroffene erleben, dass ihnen vorbehaltlos geglaubt wird, dass sie nicht hingehalten werden, dass Kirche bereitwillig Archive öffnet, Auskünfte gibt und die Verbrechen angemessen entschädigt, dann werden vielleicht auch mehr Betroffene sexualisierter Gewalt sprechen. Wenn die evangelische Kirche das ernsthaft will, dann muss sie sich auch strukturell verändern und eine andere Haltung gegenüber Betroffenen an den Tag legen. Dabei ist klar: Wenn immer mehr Betroffene sprechen, werden Kirche und Gesellschaft davon profitieren, weil wir alle mehr über sexualisierte Gewalt lernen und besser handeln können.

Anmerkung der Redaktion: Liebe Leserin, lieber Leser, die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie dieser Kommentar geben die persönliche Sicht der Autorin / des Autors wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sich Kommentare bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Journal | 25.01.2024 | 17:45 Uhr

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