Demokratie: "Wir haben eine Verzerrung zu den Privilegierten"
Sich in der Demokratie politisch zu engagieren, ist oft nur für Menschen eine Option, die sozial abgesichert sind, sagt die Philosophin Lisa Herzog im NDR Kultur-Podcast Tee mit Warum. Auf Dauer sei das ein Problem für demokratische Gesellschaften.
Die Philosophin Lisa Herzog ist in Folge 3 des Podcasts Tee mit Warum ist zu Gast. Das Gespräch lesen Sie hier. Die ganze Folge finden Sie in der ARD Audiothek und überall, wo es Podcasts gibt.
Die Leitfrage in diesem Podcast ist: Was macht uns sicher? Kann eine gerechtere Gesellschaft auch zu einer sicheren Gesellschaft werden?
Lisa Herzog: Da gibt es verschiedene Verbindungen zwischen Sicherheit und Gerechtigkeit. Die fundamentalste ist, dass es zu einer gerechten Gesellschaft gehört, diejenigen aufzufangen, die in Not geraten. Da ist dann die Frage, wie genau passiert das? Wie hoch ist das Niveau dieses Sicherheitsnetzes? Wie geht man damit um, dass es manchmal verschuldete und manchmal weniger verschuldete Formen von Not gibt? Diese grundlegende Sicherheit, dass man nicht ins Nichts fällt, die existenziellen Bedürfnisse einigermaßen erfüllt werden, das ist etwas, das in allen Konzeptionen politischer Gerechtigkeitstheorie eine Rolle spielt. Die Frage ist: Ist das nur ein Existenzminimum? Im Sinne von 'Ich habe genug zu essen und kann meine Wohnung heizen'. Ich würde sagen, eine wirklich gerechte Gesellschaft muss darüber hinausgehen: Menschen die Sicherheit geben, dass sie an der Gesellschaft teilhaben können. Sie werden nicht dazu verdammt, mit einem ganz minimalem Budget, wo sie auf jeden Cent achten müssen, durch den Tag zu kommen, sondern sie können ihr Leben nach ihren eigenen Vorstellungen leben. Das mit abzusichern und umgekehrt die Bereitschaft der Anderen zu sagen: 'Es hätte auch mich erwischen können'. Das ist der Grundgedanke der Solidarität, dass man sich diese Sicherheit gegenseitig gewährleistet.
Ein Begriff, den Sie gerade verwendet haben, ist die Teilhabe. Wir haben Teilhabe in diesem politischen System, durch eine Wahl oder in der Zivilgesellschaft. Du kritisierst in deinem Buch "Die Rettung der Arbeit", dass es im Wirtschaftsbereich diese Möglichkeiten der Teilhabe nicht gibt. Wie sicher macht uns das Wirtschaftssystem, in dem wir leben?
Herzog: Wir müssen dieses Prinzip, dass Menschen sich einbringen können, viel stärker im wirtschaftlichen Bereich institutionalisieren. Wenn man in Deutschland einen tariflich-gebundenen, gewerkschaftlich-organisierten Arbeitsplatz hat, dann hat man in der Arbeitswelt einiges an Mitsprachemöglichkeiten. Diese Arbeitsplätze werden aber tendenziell weniger, weil die gewerkschaftliche Bindung abnimmt. Wenn man schaut, wovor viele Leute Abstiegsangst haben, dann ist es genau das: Dass man aus so einem gut bezahlten, mit Rechten und Mitsprachemöglichkeiten versehenen Arbeitsplatz abstürzt. Sich dann in einer prekären Arbeitswelt von Scheinselbständigkeit oder Zeitverträgen durchschlagen muss. In diesem Bereich bestehen diese Mitsprachemöglichkeiten kaum. Das ist eine der großen Schieflagen, die ich im deutschen Wirtschaftssystems sehe. Auch politische Demokratie kann immer noch vertieft werden. Alle vier Jahre wählen gehen, ist das eine, aber sich wirklich beteiligen und vor Ort mitdiskutieren, das ist etwas Anderes. Da gibt es viele positive Bewegungen. Aber, die sind im Alltag oft nur für diejenigen eine Option, die einigermaßen sozial abgesichert sind. Wir haben bei den demokratischen Teilhabemöglichkeiten eine Verzerrung zu den Leuten, die sowieso schon privilegiert sind. Das ist auf Dauer für demokratische Gesellschaften einfach nicht der Sinn der Sache.
Wie schaffen wir es, dass es alle erreicht? Wessen Aufgabe ist es, diese demokratischen Zugänge zu schaffen?
Herzog: Das hängt sehr von dem jeweiligen sozialen Feld ab, um das es geht. Das ist eine Aufgabe, die kann nicht alleine durch formale Regeln und Gesetze gelöst werden, weil es da immer auch um die gelebte Kultur und die sozialen Verhältnisse vor Ort geht. Natürlich gibt es Bereiche, die traditionell sehr weiß und sehr männlich und sehr bildungsbürgerlich waren - und es in vielen Bereichen heute noch sind. Ich bin in der Philosophie, da ist es teilweise auch ein bisschen so. Ich sehe da eine interessante Dynamik, dass diejenigen Leute, die wirklich gute Philosophie machen und das mit viel Herzblut tun und aus diesen privilegierten Gruppen stammen, sagen: Wir sehen eigentlich, wir müssen offener werden, wir müssen mehr tun. Die große Angst - das ist jetzt anekdotisch, ich habe keine Daten dazu - haben die Leute, die das Gefühl haben, sie sind nur wegen ihrer Privilegien und nicht wegen ihrer eigenen Arbeitsqualität auf einer bestimmten Position. Da ist das Ressentiment oft am größten. Das sind natürlich schwierige Auseinandersetzungen. Je privilegierter man ist, umso mehr hat man als Individuum die Verantwortung, sich für solche Dinge einzusetzen. Das kann Hand in Hand gehen mit Änderungen des formalen Rahmenwerks. Ich bin inzwischen auch nicht mehr gegen Quoten - die muss man klug ausgestalten, aber die scheint es in vielen Bereichen einfach zu brauchen. Aber Quoten alleine machen es eben auch noch nicht. Man kann die Leute trotzdem im Arbeitsalltag mobben oder aus den interessanten Projekten raushalten. Es braucht eine Kulturveränderung, das ist immer ein Bohren dicker Bretter. Aber ich bin eigentlich ganz optimistisch, dass sich vieles tut und wir auf einem guten Weg sind.
Sollten wir uns nicht eher Gedanken machen, das Spiel komplett zu beenden und ein neues anzufangen, wo es keine Gewinner und Verlierer geben kann?
Herzog: Tatsächlich bin ich eher eine Verfechterin von graduellen Schritten, die aber offenhalten noch weitere radikalere Schritte zu gehen. Meines Erachtens lernen wir erst dann, wie ein besseres System aussehen könnte. Es ist nicht unbedingt das Beste, alles niederzureißen, bevor wir wissen, wie ein besseres System aussieht. Die Geschichte hat gezeigt, dass Umstürze oft auf Kosten der allerschwächsten Mitglieder der Gesellschaft geendet haben. Aber ich will auch nicht nur kleine kosmetische Veränderungen und im Wesentlichen alles so lassen, wie es ist. Da geht es um Fragen der Machtverteilung. Wer hat das Sagen? Wer kann darüber bestimmen, an wen bestimmte Ressourcen gehen? Über Macht redet man nicht so gerne, aber wir müssen ehrlicher darüber sprechen, wie in unserem Wirtschaftssystem auch Macht verteilt ist. Wie das eben dazu führt, dass bestimmte Gruppen ausgeschlossen werden.
Das Gespräch führten Denise M’Baye und Sebastian Friedrich im neuen Philosophie-Podcast Tee mit Warum. Die ganze Folge finden Sie in der ARD Audiothek und überall, wo es Podcasts gibt.