Am 3. Februar 1990 liegen zig zerrissene Hefte einer "Stern"-Sonderausgabe zur Volkskammerwahl in der DDR auf einer Rostocker Straße. © Imago Images / Roland Hartig Foto: Roland Hartig

NDR Serie "Was war da los?": Eine "Stern"-Stunde kriegt Gegenwind

Stand: 23.12.2023 05:00 Uhr

Tausende Zeitschriftenseiten bedecken 1990 eine Straße mitten in Rostock: Was als demokratische Anschubhilfe gedacht ist, gerät außer Kontrolle. Doch es ist nicht das Wetter, das dem "Stern" da durch die Parade pustet. Die NDR Serie "Was war da los?" erklärt die Einzelheiten.

von Benjamin Unger

Februar 1990. Die DDR existiert noch, aber das System wird abgewickelt. Sichtbarstes Zeichen der neuen Zeit: die erste freie Wahl im Arbeiter- und Bauernstaat. Am 18. März 1990 können die Bürger der Deutschen Demokratischen Republik ihr Parlament, die Volkskammer, erstmals frei wählen. Dafür schickt der Westen Hilfe und Unterstützung in den Osten - natürlich nicht ganz uneigennützig: Die Parteien aus dem Westen pumpen jede Menge Geld in den Wahlkampf, unterstützen ihre Parteifreunde. FDP und SPD senden je 1,5 Millionen Mark, CDU/CSU stellen gar 4,5 Millionen Mark bereit für den Wahlkampf des Bündnisses "Allianz für Deutschland".

DDR-"Stern": "Nachhilfe" im demokratischen Parteiensystem

Seiten zur SPD und zum Neuen Forum in der "Stern"-Sonderausgabe vom Februar 1990 zur Volkskammerwahl in der DDR. © NDR Foto: Benjamin Unger
Zehn neue Parteien in der DDR werden in der "Stern"-Sonderausgabe 1990 vorgestellt: SPD, Demokratischer Aufbruch, Grüne Partei, Unabhängiger Frauen-Verband, Vereinigte Linke, Neues Forum, Deutsche Soziale Union, Demokratie jetzt, Initiative für Frieden und Menschenrechte sowie die FDP.

Eigenmächtige Hilfe kommt unerwartet auch von einer anderen Stelle: Der Hamburger "Stern" arbeitet an einer Ausgabe zur Volkskammerwahl - speziell und nur für den Osten. Mit dem Sonderheft will das westdeutsche Magazin den neuen Parteien und basisdemokratischen Bewegungen in der DDR ein Forum bieten. "Die Idee kam aus der Redaktion heraus. Wir wollten im Osten das demokratische Parteiensystem bekannt machen", erinnert sich der Redaktionsleiter des Sonderheftes, Klaus Liedtke. "Wir sahen das geradezu als unsere Aufgabe in der damaligen Zeit an."

Parteien- und Themen-Überblick - ohne SED-Nachfolgerin PDS

Seiten zu Umweltfragen in der "Stern"-Sonderausgabe vom Februar 1990 zur Volkskammerwahl in der DDR. © NDR Foto: Benjamin Unger
Mit Wahlkampfthemen und der Haltung der einzelnen Parteien dazu will der "Stern" die DDR-Bürger 1990 in seiner Sonderausgabe für die Volkskammerwahl in Demokratie schulen.

Im Kern beantworten zehn neue Parteien im Heft zehn Fragen. Etwa: Soziale Marktwirtschaft oder Planwirtschaft? Für oder gegen Währungsunion? Oder: Wie wird die Umwelt wieder sauber? Dazu werden dann tabellarisch die Antworten aller Parteien aufgeführt. Über 30 Jahre später wirkt das alles recht dröge, eher wie gedruckte Ausschnitte aus Parteiprogrammen. Allerdings ist es damals in der DDR eben das erste Mal vor einer Wahl so, dass überhaupt unterschiedliche Ansichten öffentlich, frei und unzensiert geäußert werden können. Auffällig ist, dass eine der neuen Parteien im "Stern" fehlt: die SED-Nachfolge-Partei PDS. Auch sie wurde erst im Dezember 1989 gegründet, ist aber nicht unter den zehn prominenten im Heft. An die damaligen Beweggründe kann sich Redaktionsleiter Klaus Liedtke heute nicht mehr erinnern. Die PDS jedenfalls reagiert trotzig. Auf Wahlplakate druckt sie später großformatig: "Der 'Stern' hat uns nicht gefragt, wir antworten trotzdem." Und beantwortet dort die Fragen, die der "Stern" den anderen Parteien gestellt hatte.

Eine Million "Stern"-Hefte kommen in die DDR

Im Februar 1990 überquert die 71 Seiten dicke Wahl-Ausgabe die Grenze. Mit Lastwagen werden die Zeitschriften in die großen Städte der DDR gefahren, etwa nach Ostberlin und Rostock. Eine Millionen Hefte insgesamt. Die werden direkt vom Lkw verteilt - kostenlos. "Wir hatten mit der Extra-Ausgabe keine Gewinnabsichten, es ging uns einfach um die Sache: das demokratische Parteiensystem bekannt machen", erzählt der ehemalige "Stern"-Chef Liedtke. Die Kosten werden wohl auch teilweise durch Werbung getragen. Ganzseitige Werbeanzeigen im Heft sollen die Ostdeutschen zum Konsum führen, angeboten werden natürlich Fernsehgeräte und Versicherungen. Besonders aggressiv werben im Heft aber vor allem Zigaretten-Hersteller um die neuen Kunden - eine Marke passenderweise mit dem Slogan: "Test the West".

Titel und Rückseite der "Stern"-Sonderausgabe vom Februar 1990 zur Volkskammerwahl in der DDR liegen auf einem Tisch © NDR Foto: Benjamin Unger
Offensive Strategie oder Blattmacher-Lapsus? "Test the West!" darf eine Zigarettenmarke im "Stern extra" für die DDR werben. Von Feingefühl gegenüber den DDR-Bürgern zeugt das jedenfalls nicht.

Am Tag der Verteilung strömen in den ostdeutschen Städten dann Hunderte zu den Lkw. Direkt von der Ladefläche werden die Zeitschriften ausgegeben. Klaus Liedtke und seine Mitstreiter beim "Stern" sind mehr als zufrieden: "Wir waren begeistert, als wir hörten, dass die Zeitschriften quasi aus den Händen gerissen wurden."

Aufgeschlitzte Lkw-Plane und zerfetzte Hefte in Rostock

Der Andrang bei der Verteilung der kostenlosen "Stern"-Sonderausgabe in Rostock zur Volkskammerwahl 1990 ist groß. © Roland Hartig
"Die Zeitschriften wurden uns quasi aus den Händen gerissen", sagt der Redaktionsleiter des DDR-Sonderhefts von 1990, Klaus Liedtke.

In Rostock hingegen ist es anders. Hier wird auch gerissen - allerdings auseinander. "Der Lkw stand plötzlich auf dem Neuen Markt, ohne Vorankündigung", erinnert sich der Rostocker Fotograf Roland Hartig, der damals dabei ist. Er beobachtet, wie der Lkw-Fahrer von den Behörden unter die Lupe genommen wird: "Die wollten wohl prüfen, ob das eine westliche Propaganda-Aktion ist." Doch die "Aufklärungs"-Magazine aus Hamburg können zunächst normal verteilt werden. Viele Rostockerinnen und Rostocker greifen auch begierig zu und nehmen den "Stern" mit nach Hause.

Dann aber sei die Stimmung umgeschlagen, erzählt Hartig: "Ich habe mitbekommen, wie jemand mit einem Messer die Plane des Lastwagens aufgeschlitzt hat, um an die Hefte zu kommen. Einige Leute haben sie dann rausgeholt und zerrissen. Die einzelnen Zeitungsseiten flogen nur so durch die Gegend, bedeckten die komplette Straße - eine schräge Situation." Dankbare Interessierte und mutwillige Zerstörer "reißen" sich nun um die Magazine. Doch trotz der beiden Lager kann die Aktion ohne Ausschreitungen beendet werden.

Ist die Stasi noch immer aktiv?

Eine Bildagentur schreibt zur Aktion in Rostock: "03.02.1990 - Rostock: Der STERN extra Nr. 1, ein Sonderdruck aus Hamburg zur DDR-Wahl der Volkskammer im März 1990, sorgte für Stimmung in Rostock. Stasi-Leute und SED Altkader zerfledderten die Ausgabe." So hatte Fotograf Hartig die Situation vor dem Lkw wahrgenommen - und diese Wahrnehmung zur Beschreibung seines Fotos mitgegeben. Hartig ist damals eigentlich noch Wachoffizier bei der Volksmarine und kurz vor dem Einstieg als Fotojournalist bei der "Mecklenburgischen Volks-Zeitung". "Mein Eindruck war, dass da noch jemand von der Stasi zugegen war: Der Fahrer des Lkw wurde von einem strengen und scharf agierenden Mann in Zivil kontrolliert. Der Fahrer hatte sichtlich Angst." Aber war da wirklich noch die Staatssicherheit unterwegs? Ein konzertierter Einsatz der Geheimpolizei drei Monate nach dem Mauerfall?

In den Unterlagen der DDR-Staatssicherheit lässt sich zu diesem Vorfall nichts finden, da die Dokumentationen mit der Besetzung der Rostocker Stasi-Bezirksverwaltung in der Nacht vom 4. zum 5. Dezember 1989 endeten. "Wer die 'Schreddernden' waren, lässt sich aus den Stasi-Akten daher nicht feststellen", so Volker Höffer, Leiter der Rostocker Außenstelle des Bundesarchivs, in das die Stasi-Akten 2021 überführt worden sind.

"Das war eine klare Einmischung in den Staat"

Fotograf Roland Hartig Anfang der 1990er-Jahre. © Roland Hartig
Fotograf Roland Hartig hat die Verteilung der "Stern"-DDR-Ausgabe in Rostock festgehalten.

Belegen lässt sich Hartigs Eindruck einer Stasi- und SED-Aktion, vermutlich ungeprüft übernommen von der Bildagentur, also nicht mehr. Und er sagt: "Da waren sicherlich auch Unzufriedene dabei, die die Hefte aus dem Lkw geholt und zerrissen haben. Leute, die es nicht gut fanden, dass der Westen sich derart einmischt. Das war ja doch schon eine klare Einmischung in einen Staat - wir waren ja noch ein Staat."

Allerdings scheinen die Unzufriedenen unter den Bürgern an diesem Tag in Rostock insgesamt nur eine kleine Minderheit gewesen zu sein, denn eine Studie der Uni Karlsruhe zeichnet nur vier Wochen später ein sehr klares Bild: 91 Prozent der Ostdeutschen geben an, "sehr erfreut" oder zumindest "erfreut" über die Aussicht auf eine Deutsche Einheit zu sein, nur 5,6 Prozent sind dagegen. Auch die abgefragten Zukunftsperspektiven der DDR-Bürger unterstreichen die mit einer Wiedervereinigung verbundenen Hoffnungen: 73 Prozent erwarten laut der Studie in der Zukunft eine Verbesserung der gesamtwirtschaftlichen Lage.

Warum ausgerechnet Rostock?

Der Andrang bei der Verteilung der kostenlosen "Stern"-Sonderausgabe in Rostock zur Volkskammerwahl 1990 ist groß. © Roland Hartig
Rostock war der einzige Ort in der DDR, an dem die "Stern"-Verteilung boykottiert wurde. Möglicherweise habe es am Standort gelegen, vermutet Fotograf Roland Hartig.

Warum nun aber stößt die "Stern"-Verteilung im Februar 1990 ausgerechnet in Rostock auf Widerstand? "Vielleicht weil die Ausgaben in Rostock direkt vor dem Rathaus verteilt wurden", mutmaßt Fotograf Hartig. "Da saßen noch die Vertreter des untergehenden Staates und vielleicht waren die entrüstet und haben dann vor ihrer Tür Stimmung gegen die Verteilung gemacht."

Trotz Rostock-Debakel: Wahlbeteiligung liegt bei 94 Prozent

Spätestens am Wahltag zeigt sich schließlich, dass der "Rostocker Verriss" offenbar nur ein Ausreißer gewesen ist. Der Wunsch der "Stern"-Redaktion - Verständnis für das demokratische Parteiensystem in der DDR - erfüllt sich: Sechs Wochen nach der Sonderausgabe des Magazins liegt die Wahlbeteiligung bei der ersten (und letzten) freien Volkskammerwahl bei 94 Prozent. Ein deutliches Signal des demokratischen Aufbruchs.

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