Der kurze Traum von der "Mecklenburgischen Volks-Zeitung"
Die neue Pressefreiheit in der DDR sorgt 1990 für einen Gründer-Boom bei Zeitungsmachern. Doch in Rostock ist schnell wieder Schluss. Die "Mecklenburgische Volks-Zeitung" erscheint nach nur sechs Monaten am 5. September ein letztes Mal.
Die Blattmacher mussten sich nicht lange bitten lassen: Nur wenige Tage nach dem Volkskammer-Beschluss über die Pressefreiheit erscheint in Rostock die erste Ausgabe der "Mecklenburgischen Volks-Zeitung"- kurz "MVZ". Ihre Macher ärgern sich seit Langem über das Informationsmonopol von Partei-Blättern wie der "Ostsee-Zeitung". Ihnen wollen sie etwas entgegensetzen und stellen kurzerhand ihre eigene Redaktion zusammen. Mitstreiter finden sich in diesen Tagen schnell.
Aufbruchsstimmung nach der Wiedervereinigung
Martina Plothe gehört zu den ersten Blattmachern der "MVZ" von 1990. 30 Jahre später erinnert sie sich im Nordmagazin des NDR daran, wie die Redaktion einst zusammengefunden hat. Der spätere Geschäftsführer des Blattes sei einfach ohne zu Klopfen in eine öffentliche Versammlung geplatzt und habe 20 Leute für die neue Tageszeitung gesucht: "Dann standen sofort ein paar Leute auf und gingen mit ihm mit - ich auch", erzählt sie.
Auch ihr späterer Kollege Karsten Schröder ist sofort begeistert. Für die verwegene Idee lässt er sich für zwei Monate von seinem Job im Rostocker Stadtarchiv beurlauben: "Wir sind abends ins Bett gegangen und haben gesagt: 'Schade, wird doch nichts.' Und morgens um neun Uhr, wenn ich mich mit den Freunden und Kollegen dort wieder getroffen habe, da sah die Situation schon wieder ganz anders aus", erzählt Schröder.
Macher wollen kein Partei-Blatt
Am 15. Februar 1990 geht es dann wirklich los. Die "MVZ" mit ihrer Startauflage von 100.000 Exemplaren ist eine der ersten neuen Tageszeitungen im Zuge der Wende in der DDR. Aber ihr Name ist alt. Denn die "Mecklenburgische Volks-Zeitung" gab es schon einmal. Von 1892 bis 1933 war sie ein SPD-Blatt. Auch 1990 sind drei der sechs Gesellschafter der Zeitung SPD-Mitglieder - unter ihnen Ingo Richter. Der Kinderarzt ist damals Mitbegründer der Rostocker Sozialdemokraten. Die Neuauflage aber soll aber auf keinen Fall eine Partei-Zeitung werden: "Wir waren damals alle so eingestellt. Wir verstanden uns ja alle gut mit dem "Neuen Forum", dem "Demokratischen Aufbruch". Wir haben zusammengesessen am Runden Tisch. Wir haben alle gar nicht so ein Partei-Denken gehabt", erinnert sich Richter vor einigen Jahren. Die "Mecklenburgische Volkszeitung" sieht sich stattdessen als "Stimme der neuen Demokratie in Mecklenburg-Vorpommern" - wie es im Titel heißt - kurz vor den ersten freien Wahlen, die im März 1990 anstehen.
Eine Zeitung wie eine Wundertüte
Vom Zeitung-Machen hat allerdings niemand Ahnung. Jeden Tag müssen acht Seiten gefüllt werden. Eine Chefredaktion gibt es zunächst aber nicht. Alles wird basisdemokratisch entschieden. "Die Tür ging auf und zu. Da kam jeder rein", erinnert sich Martina Plothe. Besucher hätten Fotos und Geschichten abgeliefert, ihr Parteibuch auf den Tisch gelegt und erzählt, wo sie nun stattdessen eingetreten seien. "Die kamen alle zu Wort. Aber es war recht planlos zu Anfang". Die Zeitung wirkt wie eine Wundertüte: Ständig wird Neues probiert. Jeden Tag sieht sie ein bisschen anders aus. Das verwirrt einige Leser. Aus dem Westen kommt Hilfe für die Rostocker Redaktion: Der "Weserkurier" aus Bremen spendiert den Druck einer bunten Beilage. Die "Neue Westfälische" aus Bielefeld steuert Geld und Gast-Redakteure bei. Das Zusammengehen mit einem West-Verlag lehnt die Redaktion aber strikt ab.
Bunte Konkurrenz aus dem Westen
Die ehemaligen Partei-Blätter dagegen sind bald in den Händen westdeutscher Großverlage und haben jede Menge Geld für Investitionen. Die "MVZ" dagegen kämpft mit Problemen - vor allem beim Vertrieb. Denn Zeitungen darf nur die Post ausliefern, die allerdings nur selten pünktlich ist. Leser kündigen deshalb Abos. Außerhalb von Rostock wird die "Volks-Zeitung" zudem kaum gekauft. Die Auflage sinkt dramatisch: von 100.000 auf 35.000 Exemplare. Im Frühsommer 1990 drängen dann plötzlich West-Zeitungen auf den Markt. Sie sind dicker, bunter und kosten nicht viel mehr. Sorgen macht auch der Druck. Rostock hat nur eine Druckerei. Die "Mecklenburgische Volks-Zeitung" muss dort als Erste drucken und ist daher oft nicht so aktuell wie die Konkurrenz.
Abschied nach 171 Ausgaben
Im Spätsommer dann sackt die Auflage auf 8.000 Stück. In der Redaktion am Doberaner Platz in Rostock herrscht gedrückte Stimmung. Am 4. September entsteht ein Gruppenfoto der Mitarbeiter, das auf den Titel der letzten Ausgabe gedruckt wird. "Die MVZ ist tot!", heißt es darin. Martin Plothe erinnert sich, dass sie genau in dem Moment zur Tür herein kam, als dieses Gruppenfoto entstand: "Da bin ich in Tränen ausgebrochen wie alle anderen auch. Es war sehr, sehr berührend", erzählt sie. Nach 171 Ausgaben ist Schluss für die Neuauflage der "MVZ". "Es war eine tolle Zeit und ich würde es immer wieder machen", sagt Plothe heute dennoch. So etwas wie damals habe sie nie wieder erlebt. Etwas mehr als sechs Monate wollte die Zeitung im Jahr 1990 die "Stimme der neuen Demokratie in Mecklenburg-Vorpommern" sein. Sie wurde zumindest Geburtshelferin.