Lüge und Verrat: Vom Versagen der Spionage-Abwehr
Manchmal sind es die kleinen und allzu menschlichen Dinge, an denen große Geheimdienst-Operationen scheitern. Geht es um die umfassenden Spionage-Bemühungen der DDR in den 70er- und 80-er Jahren, gehören etwa der Besuch eines Sex-Shops oder der Kauf von Bananen und Südfrüchten durchaus dazu: So machten sich als West-Bürger getarnte Stasi-Kuriere aus dem Osten zu Zeiten des Eisernen Vorhangs verdächtig, wenn sie bei Ankunft in einer westlichen Metropole zunächst vor den Verlockungen der kapitalistischen Konsumgesellschaft kapitulierten und spontan der Versuchung unterlagen. Dennoch hatte der Verfassungschutz in Niedersachsen erhebliche Probleme, der Spitzel Herr zu werden - und scheiterte in Sachen Spionage-Abwehr allzu oft.
So berichten es jetzt zwei Mitarbeiter des Verfassungsschutzes im vertraulichen Gespräch mit dem NDR. Ihre Namen wollen sie nicht nennen. Wohl aber möchten sie Auskunft darüber geben, wie es damals war, als Deutschland noch durch Mauer und Zaun in zwei Teile getrennt war.
Zentrales Ziel: Enttarnung der Reisekader
Niedersachsen hatte bei der bundesweiten Spionageabwehr damals eine Schlüsselstellung. Der Grund war die lange Grenze zur DDR. Viele Routen der Stasi-Kuriere führten durch Niedersachsen. Diese Reisekader zu erkennen, war ein zentrales Ziel. Denn diese "Geheimdienst-Touristen" transportierten Aufträge zu den im Westen aktiven Spitzeln, auf der Rückfahrt nahmen sie jene Dokumente mit, die die Spione beschafft hatten.
Nachrichtendiensts entwickelt "Rasterfahndung"
Deshalb machte man sich beim Verfassungsschutz daran, Systeme zu entwickeln, solche Schlüsselpersonen aus dem Heer derjenigen herauszufiltern, die die Grenze mit dem Auto passierten oder mit Bahn und Flugzeug anreisten. "Reisewegsuchmaßnahmen" hieß das in der Sprache der Nachrichtendienste. Tatsächlich war es eine Art "Rasterfahndung". Interessant waren für die niedersächsischen Verfassungsschützer dabei vor allem Männer im Alter zwischen 35 und 55 Jahren. Wer den Nachrichtendienstlern dabei aufgefallen war, wurde "getippt", wie man im Geheimdienst-Jargon sagt. Das hieß: Sich diskret an die Fersen zu heften und auf weitere Verdachtsmomente zu warten. Ein Besuch im Rotlichtviertel war dabei ein möglicher Hinweis. Andere Ost-Agenten flogen auf, weil sie dem westlichen Warenangebot nicht widerstehen konnten: So manche Agenten-Karriere scheiterte, weil der Reisekader sich bei einem schnöden Kaufhausdiebstahl ertappen ließ.
Telefon-Test negativ? Verdacht auf Spionage
Ein anderer Trick, die Spionage-Boten zu entlarven, war das Kontroll-Telefonat: Oftmals reisten sie mit gestohlenen, aber echten westdeutschen Papieren ein, nur die Passfotos waren ausgetauscht. So konnte es geschehen, dass ein vermeintlicher "Hugo Habicht" aus Kiel vor den Beamten des Bundesgrenzschutzes stand. Tatsächlich aber handelte es sich um einen Mitarbeiter des MfS. Verfassungsschützer fragten deshalb schleunigst telefonisch bei "Hugo Habicht" aus Kiel nach, ob er tatsächlich am Grenzübergang gewesen sei. War die Antwort negativ, stand ein MfS-Mitarbeiter vor der Enttarnung. Bitter für den Nachrichtendienst aus Hannover: An zentraler Stelle in der Büttnerstraße saßen nacheinander zwei Stasi-Spione, die die Informationen über die Enttarnung an die Reisekader weiterleiten konnten, bevor die bundesdeutschen Sicherheitsbehörden Zugriff hatten. Wieder einmal war eine "Reisewegsuchmaßnahme" ohne Ergebnis im Sande verlaufen.
Pro Woche eine Spitzel-Überführung vereitelt
Weil sich solche Fälle ab 1977 häuften und den niedersächsischen Behörden immer seltener Helfer des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) ins Netz gingen, schöpfte man beim Verfassungsschutz Verdacht. "Hätte es den Verrat von Hans-Jürgen A. und Wilhelm B. nicht gegeben, hätten wir mindestens einmal pro Woche einen Stasi-Mann dingfest gemacht", sagt ein niedersächsischer Verfassungsschützer, der schon damals aktiv war, heute im vertraulichen Gespräch mit dem NDR. Die Feststellung kommt nicht von ungefähr: Experten gehen davon aus, dass damals jährlich rund 30.000 solcher "Ost-Reisebewegungen" im Bundesgebiet erfolgten.
Verfassungsschutz-Chef: "Wir haben einen Maulwurf im Haus"
Niedersachsens früherem Verfassungsschutzchef Peter Frisch schwante Böses: Im Mitarbeiterkreis spekulierte er damals: "Wir haben einen Maulwurf im Haus." So berichten es Mitarbeiter dem NDR. Frisch handelt und startet eine konspirative Aktion: Die Operation heißt "Die sieben Samurai". Aus anderen Bundesländern trommelt er sieben Spezialisten zusammen, die meisten von ihnen Kriminalbeamte, die Niedersachsens Verfassungsschutz von außen auf Herz und Nieren überprüfen sollen. Die Aktion ist so geheim, dass die Namen dieser "sieben Samurai"“ auf keinem Organigramm und auf keiner Telefonliste erscheinen dürfen. Doch die Suche nach dem Maulwurf bleibt ohne Erfolg: Rückblickend sagt ein Verfassungsschützer heute über die beiden verräterischen Kollegen: "Die waren der Meister der Tarnung. Ohne den Zusammenbruch der DDR wären sie niemals aufgeflogen."
So bleibt das Kapitel "Verrat im Niedersächsischen Verfassungsschutz" auch für die "sieben Samurai" ein "Buch mit sieben Siegeln" - und die Spione können ihr verräterisches Werk fortsetzen.