Zwei Top-Spione unterwandern den Verfassungsschutz
Enttäuschung, Kränkung oder auch schnöde Geldgier - das ist nicht nur das Fundament vieler Bücher. Für Kriminalisten sind es auch wichtige Motive, wenn es um die Suche nach dem Täter geht. Für zwei Beamte des Niedersächsischen Verfassungsschutzes dürfte zumindest jeweils eines dieser Motive den Ausschlag dafür gegeben haben, sich unabhängig voneinander der DDR-Staatssicherheit als "Inoffizieller Mitarbeiter" (IM) anzudienen. Bei Hans-Jürgen A. ist das aktenkundig. "Irgendwann zwischen dem 24.8. und dem 30.8.1979 meldete sich der Angeklagte aus rein finanziellen Gründen über das Decktelefon des H. L. bei der Hauptverwaltung Aufklärung (Stasi-Fachabteilung für Spionage, Anm. d. Red.)", stellt das Oberlandesgericht Celle 1996 in seinem Urteil (AZ 3 StE 15/93) nüchtern fest.
Chef der "Methodischen Spionageabwehr" mit direktem Draht zur Stasi
Für die Stasi ist der Anruf ein Volltreffer und der Beginn einer langen Zusammenarbeit: Denn der Mann, der sich am Stasi-Telefon nur "Schwarzhaupt" nennt, sitzt sozusagen beim Gegner in der Höhle des Löwen. Seit 1971 steht der gelernte Polizist in Diensten des Niedersächsischen Verfassungsschutzes. Vier Jahre später ist der 1,91 Meter große Mann mit dem bulligen Körperbau Sachgebietsleiter eines besonders wichtigen Arbeitsbereiches: "Methodische Spionageabwehr" heißt das Fachgebiet, das ein für Niedersachsens Verfassungsschutz besonders wichtiges Aufgabengebiet beschreibt. Es geht darum, Methoden zu entwickeln, wie das Einschleusen von DDR-Agenten und Reisekadern verhindert werden kann. Niedersachsens Nachrichtendienst hat hier eine bundesweite Führungsfunktion, denn kein anderes Bundesland hat eine so lange Grenze zur DDR, durch kein anderes Bundesland führen so viele Routen der Stasi-Kuriere. Als Hans-Jürgen A. sich der Stasi andient, ist er 36 Jahre alt.
"Selbstanbieter"aus Wut und Hass?
Auch die zweite Top-Quelle der Stasi bei Niedersachsens Nachrichtendienst ist ein sogenannter Selbstanbieter: Wilhelm B. Er ist vier Jahre älter als sein Kollege und wie dieser von Beruf Polizist. Seit 1970 ist er beim Verfassungsschutz, gilt als strebsam, talentiert, aber auch als eigenbrötlerisch. Wilhelm B. fühlt sich offenkundig zu mehr berufen, bewirbt sich für den "Höheren Dienst" bei der Polizei. Doch sein Streben nach Karrieresprüngen trifft auf wenig Gegenliebe. 1977 wählt auch er eine Stasi-Telefonnummer, die ihm aus dienstlichen Zusammenhängen bekannt ist. Auch Wilhelm B.s Verrat soll am Ende ein gerichtliches Nachspiel haben. Im Urteil des OLG Celle von 1994 (AZ 3 StE 6/92) heißt es zu seiner Motivlage: "Wut und Hass auf seine Vorgesetzten nahmen derart zu, dass er sich Mitte 1977 binnen weniger Tage entschloss, sich dem MfS (Ministerium für Staatssicherheit, Anm. d. Red.) der DDR nachrichtendienstlich anzubieten, um damit seine Vorgesetzten zu schädigen."
Wichtige Teile der Spionage-Abwehr lahmgelegt
Die beiden Spione handelten unabhängig voneinander, ohne zu wissen, dass der jeweils andere auch in Diensten des MfS stand. Mögen ihre Motive auch unterschiedlich gewesen sein - im Fokus ihrer Verratstätigkeit stand dasselbe Ziel: Sie lieferten Informationen über die Bemühungen des Niedersächsischen Verfassungsschutzes, die Verbindungswege von MfS-Kurieren aufzuklären und die Einschleusung von Stasi-Agenten zu verhindern. Das Resultat hielt das OLG Celle in seinem Urteil zu Wilhelm B. so fest: "Der Verrat führte somit dazu, dass die Gegenseite alle Vorkehrungen treffen konnte, um ihr gesamtes Quellennetz zu schützen. Dabei hatte insbesondere der Großraum Hannover als Drehscheibe der Reisetätigkeit der Kuriere eine besondere Bedeutung wegen der kurzen Verbindungen zu Luft, zu Lande und per Bahn nach West-Berlin. Tatsächlich sind seit Beginn der Verratstätigkeit bis zur Auflösung des MfS keinerlei Verluste an Reisekadern aufgetreten." Für Georg Herbstritt, Historiker bei der Stasi-Unterlagenbehörde, steht deshalb in der Rückschau fest: "Die Stasi hat es in den 80er-Jahren geschafft, wichtige Teile der Spionage-Abwehr der Bundesrepublik lahmzulegen. Sie hat sich damit Möglichkeiten geschaffen, ungestört im Westen zu operieren."
Ehemaliger Stasi-Oberst bekennt Farbe
Und das ist nicht nur die Sichtweise eines Beobachters: Klaus Eichner war bis zur Wende Stasi-Oberst und einer der wesentlichen Analytiker der Behörde in der Führungsriege: Im NDR Interview bekennt er jetzt Farbe: "Durch diese beiden Positionen, die wir in Niedersachsen hatten, haben wir über Jahre hin einen guten Einblick in alle Aktivitäten und auch alle Planungen dieses Landesamtes gehabt."
Wahre Identität selbst der Stasi nicht bekannt
Während Wilhelm B. unter seinem Klarnamen mit der Stasi Kontakt hielt, brachte Hans-Jürgen A. das Husarenstück fertig, seine wahre Identität auch gegenüber der Stasi zu verschleiern. Treffen mit den Ost-Kurieren fanden meist unter freiem Himmel in den schummrigen Abendstunden statt, zum Beispiel am Nordseedeich in der Nähe von Heide. Hans-Jürgen A. trug Sonnenbrille, den Hut tief in die Stirn gezogen, die untere Hälfte mit einem Schal verdeckt. Bis zum Zusammenbruch der DDR konnte die Stasi nur ahnen, mit wem sie es zu tun hatte. Der Agentenlohn floss trotzdem reichlich. Das OLG Celle spricht von insgesamt rund 420.000 Mark. Ein letztes Treffen mit der Stasi gab es kurz nach dem Mauerfall - im November 1989 an der Hamburger Elbchaussee.
Wilhelm B. hatte offenbar noch länger Hoffnung auf eine Fortsetzung der Zusammenarbeit: Noch 1990 hinterließ er eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter in der Stasi-Zentrale. Es war die dringende Bitte um eine Rückmeldung. Doch die erfolgte nicht.
Verachtung, Enttäuschung - und ein Hauch von Respekt
Wenn Mitarbeiter des Niedersächsischen Verfassungsschutzes heute über die beiden DDR-Spione im eigenen Haus sprechen, dann schwingt trotz aller Verachtung über den Verrat auch ein leichter Hauch von Respekt mit. Zumindest gilt das für Hans-Joachim A.: Er sei mit Leib und Seele Nachrichtendienstler gewesen, sagt einer der beiden Verfassungsschützer, die sich den Fragen des NDR gestellt haben. Ihre Namen wollen sie nicht preisgeben, wohl aber ihre Erinnerungen. "Sein Wort hatte Gewicht, ohne ihn wurde im Bereich Spionage-Abwehr keine wichtige Entscheidung gefällt", heißt es über Hans-Joachim A., der von manchen im Haus auch als "der Pate" bezeichnet wurde. Beide Nachrichtendienstler sind sich sicher: "Ohne den Mauerfall hätte man B. und A. nicht dingfest machen können." Unmittelbar nach dem Mauerfall sei bei beiden die pure Angst spürbar gewesen: "Es konnte ja jederzeit die Tür aufgehen und die Festnahme vollzogen werden."
Für die Verfassungsschützer war der Verrat von Hans-Jürgen A. und Wilhelm B. im doppelten Sinne belastend: Der Nachrichtendienst habe erhebliche Kosten und Personal völlig umsonst eingesetzt. Mancher Mitarbeiter fühlt sich um die Früchte seiner Arbeit betrogen und steht vor der Erkenntnis, fast zehn Jahre lang umsonst gearbeitet zu haben. "Dass sie uns so schäbig hintergehen würden, hätten wir nie gedacht."
Haftstrafen wegen Agententätigkeit und Landesverrats
Hans-Jürgen A. wurde 1996 vom OLG Celle wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit zu sieben Jahren Haft verurteilt, Wilhelm B. erhielt 1994 wegen Landesverrat und Bestechlichkeit eine Haftstrafe von neun Jahren.