Kalter Krieg im Ostseeraum: Vom "Meer des Friedens" zum "NATO-Binnenmeer"
Spionage, Agentennetze, Truppenkonzentrationen, Invasionspläne: Die Beziehungen der Ostseeanrainerstaaten im Kalten Krieg waren das Thema einer Historiker-Tagung in Rostock, bei der auch Erkenntnisse aus jüngst geöffneten Archiven präsentiert wurden. So sollte im Konfliktfall eine dänische Spezialeinheit auf Rügen landen. Laut einem Historiker hat Russland aus der Zeit des Kalten Krieges die falschen Lehren für die Zukunft gezogen.
"Die Ostsee muss ein Meer des Friedens" sein. Das war das Mantra der Ostseewoche, das bis heute in vielen Köpfen nachhallt. 1958 hatten die DDR-Oberen sie ins Leben gerufen - als direkte Konkurrenz zur Kieler Woche. Die Botschaft, das bessere System und das bessere Deutschland zu sein, richtete sich besonders an die Skandinavier, wo die politischen Mehrheiten traditionell links der Mitte lagen. Nachbar Dänemark war zwar seit 1949 NATO-Mitglied, aber viele Dänen fremdelten mit der Allianz, weshalb das Königreich bis vor wenigen Wochen eine Sonderrolle beanspruchte. Schweden und Finnland waren neutrale, blockfreie Staaten. Auch das hat sich mit ihrem Antrag auf NATO-Mitgliedschaft radikal geändert. Die Erklärung für diesen Wandel liefert auch die gemeinsame Geschichte des Kalten Krieges im Ostseeraum. Genau damit hat sich eine Historiker-Tagung in Rostock befasst, die von den Professoren Stefan Creuzberger (Uni Rostock), Oliver Auge (Uni Kiel) und Thomas Wegener Friis (Süddänische Uni in Odense) organisiert wurde.
Segeln, Schlager, Klassenkampf
Vor der Ostseewoche, die meist Anfang Juli stattfand, wurde überall im Bezirk Rostock gewerkelt und aufgehübscht. Die Partei- und Staatsführung der DDR wollte einen guten Eindruck hinterlassen, aber auch ganz normale Rostockerinnen und Rostocker freuten sich auf Regatten, Konzerte, das bunte Treiben und natürlich auf internationale Gäste. Die kamen aus allen Ostsee-Anrainerstaaten, sogar aus Norwegen und Island reisten Delegationen an. Den kürzesten Weg hatten die Dänen via Fähre Gedser-Warnemünde. In den frühen 1970er-Jahren machten sich bis zu 20.000 Ausländer auf den Weg. Sie waren zu Jugend-, Frauen- und Arbeiterkonferenzen eingeladen, Ausflüge in Betriebe und Kulturstätten wurden organisiert. Es gab sogar eine Kunstbiennale und ein Schlagerfestival mit hochkarätigen Gästen wie den Olsen Brothers, den späteren European-Song-Contest-Gewinnern. "Die Ostseewoche ist immer internationaler geworden. Selbst japanische Freejazz-Bands durften spielen, was nicht unbedingt im Geiste der DDR war. Aber man hat sie reingeholt, weil man Internationalität zum Ausdruck bringen wollte und seiner eigenen Bevölkerung suggerieren wollte: Schaut mal, wie anerkannt wir sind", erklärt Professor Creuzberger.
SED-Politbüro zieht Stecker
Die meisten Gäste aus dem Norden waren beeindruckt. So viel Lebensfreude hätten sie der DDR nicht zugetraut, auch wenn viele mit den martialischen Massenaufmärschen fremdelten. Rostock profilierte sich als Tor zur Welt, auch wenn die Welt der meisten DDR-Bürger am bewachten Zaun des Fährhafens in Warnemünde endete. Der ehemalige SED-Oberbürgermeister von Rostock (1975-1990), Henning Schleiff, glaubt, dass die Begegnungen der Ostseewoche seine Stadt wirklich ein Stück weltoffener gemacht haben.
Umso größer die Enttäuschung als die DDR-Führung 1975 der Ostseewoche unerwartet den Stecker zieht. Ex-Oberbürgermeister Schleiff nennt zwei Gründe: Zum einen hatte die DDR erreicht, was sie wollte: die internationale Anerkennung. Zum anderen konnte sich der Staat so ein Festival nicht mehr leisten. Danach wurde der unsichtbare "Eiserne Vorhang" auf der Ostsee wieder undurchlässiger. In den 1980er-Jahren wollte die dänische Staatsbahn die Fährverbindung in die DDR sogar ganz einstellen, so stark waren die Passagierzahlen gesunken.
Bis an die Zähne bewaffnete Nachbarn
Auf der gemeinsamen Tagung der Unis Rostock, Kiel und Odense sorgen die bunten und lebensfrohen DDR-Fernsehbilder von der Ostseewoche für Staunen und Heiterkeit. Das Tagungsthema lautet zwar: "Mecklenburg-Vorpommern im Kalten Krieg", aber Professor Creuzberger findet, dass die damalige Zeit nur zu verstehen ist, wenn die Nachbarn mit einbezogen werden. Dazu gehört im Norden Skandinavien und im Osten Polen. Auf der Tagung geht es um gegenseitige Spionage, um Agentennetze, Truppenkonzentrationen, Invasionspläne. Gerade werden viele Akten zugänglich, die lange geheim waren. Stück für Stück erarbeiten sich die Forscher Zahlen und Fakten.
Neu zum Beispiel ist, dass eine kleine dänische Eliteeinheit, das Jägerkorps, die Insel Rügen im Konfliktfall einnehmen sollte. Eine große Aufgabe, angesichts der damaligen NVA-Truppenkonzentration am Kap Arkona, in Dranske und Prora. Auch das ist ein Thema der Forscher. Rüdiger Wenzke, Experte für Militärgeschichte der DDR, hat ausgerechnet, dass in den 1980er-Jahren allein in Mecklenburg-Vorpommern ungefähr 84.000 Angehörige der Volksarmee stationiert waren. Hinzu kamen 76.000 Soldaten der Roten Armee. "Unsere gemeinsame Region war ja bis an die Zähne bewaffnet", so Professor Wegener Friis. "Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern - selbst mein kleines Dänemark. Wir hatten uns darauf vorbereitet, uns im großen Stil gegenseitig umzubringen."
Lektion aus dem Kalten Krieg
Je mehr Militär und Waffen die Sowjetunion im Ostseeraum konzentrierte, desto unwohler fühlten sich Finnen und Schweden mit ihrer Neutralität. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten die Skandinavier zunächst noch mit einer nordischen Verteidigungsallianz geliebäugelt. Aber nach dem Überfall durch Hitler-Deutschland 1940 und der Besetzung der Insel Bornholm durch die Rote Armee 1945/46 entschieden sich die Dänen für die NATO. Schweden und Finnland sind diesen Schritt damals nicht gegangen, auch weil die Sowjetunion zu enge Beziehungen mit dem Westen besonders im Falle Finnlands niemals geduldet hätte.
Professor Creuzberger, der vor allem Russland-Experte ist, analysiert: "Solche Drohungen versucht man jetzt vonseiten Moskaus wieder zu praktizieren, gegenüber Finnland und teilweise auch gegenüber Schweden. Aber das greift ganz einfach nicht mehr." Professor Wegener Friis formuliert es so: "Die Russen haben nicht die richtigen Schlüsse aus dem Kalten Krieg gezogen. Die Lehre ist ja: Je mehr Druck die Sowjetunion auf die Skandinavier ausübte, desto stärker wurde ihr Drang in Richtung NATO."
Meer des Misstrauens
Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine sind die Analysen der Historiker gefragt, weil längst ein neuer Kalter Krieg rund um die Ostsee im Gange ist. Alle Anrainerstaaten rüsten massiv auf, jede Bewegung russischer Flugzeuge und Militärschiffe verfolgen sie argwöhnisch. Regelmäßig werden Verletzungen des Luftraums oder der Territorialgewässer gemeldet, besonders rund um die Inseln Bornholm und Gotland. Nach dem Eintritt von Schweden und Finnland wird die Ostsee wohl bald schon zum NATO-Binnenmeer, mit zwei kleinen russischen Ausnahmen, dem Oblast Kaliningrad und dem Oblast Leningrad.
Die Ostsee als Meer des Friedens muss also weiter eine ferne Illusion bleiben. Es ist eher ein Meer des Misstrauens gegenüber Putins Russland.