Rostocks Lange Straße: Magistrale im Zeichen des Sozialismus
Als Zeichen des Rostocker Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg legt Walter Ulbricht am 30. Januar 1953 den Grundstein für die "erste sozialistische Straße". Die Prachtbauten der Langen Straße sollen die Überlegenheit des neuen Staates und seiner Gesellschaftsordnung repräsentieren.
Fanfarenklänge schallen am 30. Januar 1953 vom Dach des Rostocker HO-Kaufhauses. Sie begrüßen Walter Ulbricht, den Generalsekretär der SED. Er ist gekommen, um den Grundstein für eines der wichtigsten Bauvorhaben der DDR zu legen, den Wiederaufbau der Langen Straße, die in ihrer Größe und Pracht von der Überlegenheit des Sozialismus künden soll.
Die Lange Straße: Im Bombenhagel 1942 zerstört
Die Verbindung zwischen Marienkirche und Kröpeliner Vorstadt, die erstmals 1277 in einer Urkunde als Lange Straße erwähnt wird, ist bei den Bombenangriffen der Royal Air Force auf Rostock im April 1942 fast vollständig zerstört worden. Von ihren 90 Wohn- und Geschäftshäusern haben nur sechs den britischen Spreng- und Brandbomben standgehalten. Das mächtigste Gebäude der Stadt, die Marienkirche, blieb weitgehend unbeschadet.
Ulbricht legt Grundstein für die "erste sozialistische Straße"
Am letzten Freitag im Januar 1953 steht Ulbricht nun unter einem übergroßen Stalin-Porträt auf einer hohen Tribüne und spricht zu den Arbeitern, die sich hier versammelt haben. Tausende sind mit roten Fahnen und Propaganda-Bannern von der Neptun Werft, der Bau-Union vom Dieselmotorenwerk, vom Fischkombinat und anderen Fabriken ins Stadtzentrum marschiert. Ulbrichts Rede handelt von Wiederaufbau und Sozialismus. Am Ende ruft er den Arbeitern zu: "Fangt an! Baut euch ein schöneres Rostock!" Dann steigt er hinunter in die Baugrube zur Grundsteinlegung für die Bauten der "ersten sozialistischen Straße", wo ihn Arbeiter in weißer Kluft erwarten.
Repräsentatives Bauen im Sozialismus
Für Walter Ulbricht hat der Wiederaufbau der Städte in der DDR oberste Priorität. Dabei setzt der mächtigste Mann der Deutschen Demokratischen Republik aber nicht auf die Errichtung dringend benötigter Wohnquartiere, obwohl in der Nachkriegszeit noch immer Millionen Ausgebombte und Flüchtlinge in Baracken und Kellern hausen. Geplant werden jetzt vor allem repräsentative Bauwerke und Straßen, die den sozialistischen Staat verherrlichen und die neue Gesellschaftsordnung zum Ausdruck bringen sollen.
DDR-Architektur nach sowjetischem Vorbild
In diesem "Nationalen Aufbauwerk" sollen außer in Rostock vor allem in Industriestädten wie Dresden, Chemnitz oder Dessau Magistralen und repräsentative Plätze für Aufmärsche, Demonstrationen und Feiern geschaffen werden. Die Regierung der DDR orientiert sich am historisierenden Vorbild der sowjetischen Architektur und hat selbst 16 "Grundsätze des Städtebaus" veröffentlicht.
Ulbricht will eine sozialistische und nationale Architektur
Die Planungen der Rostocker Architekten um den erst 27-jährigen Joachim Näther begutachtet Ulbricht persönlich. Er fordert eine Straßenbreite von 60 Metern, das dreifache der früheren Ausdehnung. Die Häuser sollen zu "Palästen des Volkes" werden, bis zu fünf Stockwerke emporragen, auch einzelne Hochhäuser sind vorgesehen.
Ulbrichts repräsentative sozialistische Architektur soll auch auf "nationale Traditionen" zurückgreifen. Während sich die Berliner Stalinallee, die zur gleichen Zeit entsteht, am Klassizismus orientiert, dominiert in den Rostocker Aufbauplänen die norddeutsche Backsteingotik. Die Formensprache der mittelalterlichen Kirchen und Rathäuser in den Ostsee-Städten mit ihren Giebeln und Türmchen verbinden die Architekten jedoch auch mit Elementen der Heimatschutzbewegung der 1920er-Jahre, mit hellen Sandsteinsäulen, Arkaden, Erkern und schmückenden Darstellungen von Fischen, Vögeln und Getreideähren.
Lebensraum für die "sozialistische Menschengemeinschaft"
Im April 1954 beziehen die ersten Mieterinnen und Mieter die komfortablen Wohnungen an der "Straße des Nationalen Aufbauwerks", wie sie seit dem 20. Juni 1953 offiziell heißt - von der Stadt ausgewählt nach politischen Erwägungen: Vor allem "verdiente" Arbeiter mit ihren Familien, eine Fischbraterin aus dem Kombinat, aber auch Ärzte und Professoren dürfen hier heimisch werden. Gemeinsam sollen sie eine neue "sozialistische Menschengemeinschaft" bilden.
Geplant sind insgesamt 433 Wohnungen, 35 Ladengeschäfte mit aufwendigen Holzeinbauten, teuren Lampen und Wandgemälden, ein Kaufhaus, eine Kinderkrippe, mehrere Gaststätten wie das "National" sowie eine Fischküche, ein FDJ-Heim und eine Bücherei.
Von Pracht zur Platte: Kosten zwingen zu Planänderungen
Doch die Straße wird bald zu teuer. Schon Ende 1953 werden die Plankosten von zehn auf sechs Millionen Mark gekürzt. Als sich die sowjetische Architektur Mitte der 50er-Jahre vom historisierenden Stil abwendet, wird auch in Rostock auf eine industrielle Bauweise mit vorgefertigten Plattenbauteilen gesetzt. "Besser, billiger und schneller" lautet jetzt das offizielle Motto. "Sozialistische Straße" und "Nationales Aufbauwerk" sind bald vergessen. Ab dem 17. Dezember 1956 heißt die Magistrale "Lange Straße".
Als erstes Gebäude knüpft das Ledigenwohnhaus von 1960 an die sachliche Formensprache der westlichen Moderne an, wie sie in der Bundesrepublik etwa in dem Wiederaufbauprojekt Neu-Altona zum Ausdruck kommt. In den folgenden Jahren entstehen noch das 43 Meter hohe Haus der Schifffahrt und das Hotel Warnow am westlichen Beginn der Langen Straße als prägende Bauten im internationalen Stil.
Die neue Straße stößt auch auf Kritik
Während sich die Menschen in der Langen Straße über die modernen hellen Wohnungen freuen und ihr Glück kaum fassen können, wenn sie vom Wohnungsamt die Zuweisung erhalten, gibt es schon während der Bauphase auch Kritik an der städtebaulichen Konzeption. Denn die überdimensionale Prachtstraße entsteht ohne Rücksicht auf die Struktur der historischen gewachsenen Innenstadt.
Nicht nur Altbauten werden abgerissen, sondern auch die aus dem 14. Jahrhundert stammende im Krieg beschädigte Jakobikirche, eine der vier Hauptkirchen der Stadt. Außerdem trennen die Häuserblocks, die nur Durchlass für Fußgänger bieten, nun das Zentrum vom Hafen und vom nördlichen Teil der Altstadt ab, in dem bis in die 80er-Jahre hinein die Häuser verfallen.
Die Lange Straße im Wandel
In den folgenden Jahren führen immer wieder Aufmärsche und Umzüge durch die Magistrale, etwa zum 1. Mai und den Ostseewochen, zu denen auch Walter Ulbricht regelmäßig erscheint. 1980 zieht sogar ein kubanischer Karnevalszug durch die seit dem Vorjahr denkmalgeschützte Straße. In den Zeiten des politischen Umbruchs im Herbst 1989 werden auf den Demonstrationen der Bürgerrechtsbewegung freie Wahlen und Demokratie gefordert. Nach der Wende werden die Häuser des einstigen Aufbauwerks in den späten 1990er-Jahren saniert und die Straße verkehrsberuhigt. Derzeit ist sie im Rahmen eines Modellversuchs vorübergehend zur ersten Rostocker Fahrradstraße umgewandelt.