Im Tausch gegen Kolonien: Helgoland wird deutsch
Anfang August 1890 liegt die Jacht des Kaisers vor Helgoland, ein schwarzer Dampfer mit Schaufelrad und zwei weißen Schornsteinen, umgeben von kleineren Begleitschiffen. In einiger Entfernung ankern ein Dutzend Panzerschiffe und mehrere Torpedoboote der kaiserlichen Marine. Wilhelm II. nimmt die Insel persönlich in Besitz. Denn seit dem 1. Juli 1890 ist Helgoland Teil des Kaiserreichs, eingetauscht bei den Briten gegen deutsche Kolonialansprüche im fernen Afrika: Witu-Land etwa im heutigen Kenia, Buganda am Victoriasee oder Gebiete in Südostafrika. Auch die Herrschaft über Sansibar hat man den Briten zugesagt, obwohl die Insel den Deutschen gar nicht gehört.
Helgoland: Ein karger Felsen von strategischer Bedeutung
Ein roter Sandsteinfelsen und eine weiße Düne im Meer, rund 50 Kilometer vom Festland entfernt: Seit 1714 wird die zum Herzogtum Schleswig gehörende Insel dänisch regiert. 1807 haben sie die Briten im Krieg gegen Napoleon zunächst besetzt und dann behalten - als Kriegshafen auf hoher See.
Die mehr als 2.000 Helgoländer Friesen leben vorwiegend von Fischfang und Strandraub, jagen Möwen und Seehunde. Im Sommer bringt ein Hapag-Dampfer Badegäste auf die Insel. Für den Kaiser, der nach deutscher Weltgeltung und Seemacht drängt, ist Helgoland ein strategisch besonders wichtiger Posten. Die Insel liegt vor den Mündungen von Elbe und Weser, den Verkehrsadern der Handelsstädte Hamburg und Bremen. Auch Wilhelmshaven ist nah, wo die kaiserliche Marine ihren Stützpunkt hat. Und der Nord-Ostsee-Kanal, der sich gerade im Bau befindet.
Für die Briten ein lohnendes Geschäft
Für die Briten aber ist die Insel zu weit entfernt, ihre Verteidigung zu aufwendig. Bevor die Schiffe der Royal Navy in ihren Heimathäfen ablegten, hätten die Marineinfanteristen des Kaisers den Felsen längst besetzt. Die Deutschen wollen ihn haben? Gut also, wenn man noch ein lohnendes Geschäft daraus machen kann: Das regelt der "Vertrag über die Kolonien und Helgoland", den der deutsche Reichskanzler Leo von Caprivi und der britische Botschafter am 1. Juli 1890 in Berlin unterzeichnen.
Weil der Kaiser den Felsen in der Nordsee dringend braucht, verzichtet er auf einen großen Teil seiner kolonialen Interessen in Afrika, auf sogenannte Schutzgebiete, Einflusssphären und weitere Pläne. Fortan beschränkt sich das Kaiserreich auf Deutsch-Südwestafrika, Togo, Kamerun und Deutsch-Ostafrika. Die Briten geben hier und da noch kleinere Landstreifen dazu, lassen sich aber im Gegenzug von den Deutschen vor allem Gebiete überschreiben, mit denen sie ihre Kolonien bedeutend vergrößern können, etwa in Kenia, Uganda und Südafrika: Was sind schon zwei Quadratkilometer Felsen gegen 2.000 Quadratkilometer Farmland?
Deutsche Kolonialpolitiker sind entsetzt
Das findet auch die Kolonial-Lobby in Berlin, die sich nicht über die "Wiedergewinnung urdeutschen Landes", wie die Zeitungen schreiben, freut. Einen schäbigen Hosenknopf habe man für einen neuen Anzug bekommen, den kargen Felsen Helgoland, so lautet die falsche, aber sich hartnäckig bis in die Gegenwart haltende Behauptung, für die ungleich größere und reichere Insel Sansibar. Die bislang erfolgreichen Versuche, das Kolonialreich auszudehnen, seien zunichte gemacht. Deshalb gründen sie einen Verein, der die imperialistische Expansion fordert und später als "Alldeutscher Verband" zu einem einflussreichen Sammelbecken für völkische Ideologen werden wird.
Auf Helgoland wird gefeiert
Der Kaiser, "Mehrer des Reiches im Frieden", wie ihn die Zeitungen überschwänglich feiern, lässt sich seine Neuerwerbung aber nicht ausreden. Am Nachmittag des 8. August 1890, einem Sonnabend, hat sich eine Menschenmenge in der Helgoländer Queen-Street mit ihren Gründerzeitvillen und Holzhäusern versammelt. Schon seit Wochen hat die Hapag in Hamburg für die Überfahrt an diesem Tag geworben, für 40 Mark inklusive Beköstigung an Bord (ohne Getränke) und Rückfahrt im Sonderzug ab Cuxhaven.
Vollbärtige Honoratioren stehen vor dem Konversations-Haus des Seebades, trotz der hochsommerlichen Wärme in schwarzem Frack und Zylinder, neben Damen in weißen Kleidern und britischen Matrosen in marineblauer Uniform. Der frische Seewind bauscht die Federbüsche an den Hüten des britischen Gouverneurs und des deutschen Staatsekretärs, die den Tausch vollziehen. Der Brite liest den Vertrag vor, dann werden Toaste auf Queen und Kaiser ausgebracht. Nach Salutschüssen hissen Soldaten die schwarz-weiß-rote Flagge neben dem britischen Union Jack.
Am Sonntag erscheint dann endlich der Kaiser. Der Anleger ist mit Flaggen und Girlanden dekoriert. Hier nimmt er die Huldigungen der angetretenen Admiräle, Generäle und Staatssekretäre entgegen. "Helgoland grüßt Dich Kaiser" steht auf einem großen Banner, das über dem Weg flattert. Unter Hochrufen schreitet er die Menschenmenge ab. Schulkinder singen die Hymne "Heil Dir im Siegerkranz". 15 Mädchen in Tracht übergeben einen grün-rot-weißen Blumengruß in den Farben Helgolands.
Preußische Ordnung zieht ein
Die Einverleibung fällt kriegerisch aus. 3.000 Matrosen und Angehörige des Seebataillons, die auf kleinen Booten von den Panzerschiffen herübergekommen sind, besetzen die Insel. Acht Kanonen wuchten sie die 188 Treppenstufen zum Oberland hinauf und bringen sie in Stellung, ebenfalls zwei 20 Meter lange Fahnenmasten, die ein Marineschlepper vom Festland gebracht hat. Nach einem Feldgottesdienst am Leuchtturm nimmt Wilhelm II. in der Kartoffelallee die Parade der Truppen ab. Neben der Reichskriegsflagge weht die Standarte des Herrschers: ein Eisernes Kreuz auf gelbem Grund.
Aus der Queen-Street wird bald die Kaiserstraße, und preußische Disziplin greift ein in das beschauliche Leben der Insulaner, die die Briten jahrzehntelang in Ruhe gelassen haben. In den "Vertrag über die Kolonien und Helgoland" haben sie aber für ihre ehemaligen Untertanen noch einige Vergünstigungen schreiben lassen, die lange gelten. Vor dem 1. Juli 1890 geborene Bewohner sind von der Wehrpflicht befreit, alte Gesetze und Gewohnheiten sollen möglichst bestehen bleiben. Auch können die Helgoländer sich zwischen deutscher und britischer Staatsangehörigkeit entscheiden - nur elf werden Briten.
Die Insel bleibt auch später umkämpft
In den folgenden Jahrzehnten flammen immer wieder Kämpfe um die Insel auf. Im Ersten Weltkrieg versenken die Briten bei Seegefechten vor Helgoland deutsche Kreuzer, Torpedoboote und andere Kriegsschiffe. Im April 1945 müssen die Helgoländer ihre Insel nach massiven Bombenangriffen der Royal Air Force verlassen. Zwei Jahre später sprengen die Briten die unterirdischen Bunkeranlagen der Kriegsmarine mit rund 100.000 Bomben und Granaten in die Luft. Den roten Felsen benutzen sie danach jahrelang als Bombenabwurfplatz. Die Insel geben sie erst 1952, nach Appellen der vertriebenen Einwohner an die Vereinten Nationen und den Papst, an die Bundesrepublik Deutschland zurück.