Hamburgs schwimmende Kirche und die Binnenschiffer
Mit der Barkasse "Johann Hinrich Wichern" steuern Ehrenamtliche der Hamburger Flussschiffergemeinde die Kähne in den Seitenarmen der Elbe an. Benannt ist die Barkasse nach jenem Johann Hinrich Wichern, der die Binnenschifferseelsorge 1870 gegründet hat.
Anfang der 1950er-Jahre wurde der ehemalige Frachtkahn umgebaut und zur Kirche geweiht. Mittlerweile gehört die marineblaue Flussschifferkirche vor der Speicherstadt zu den Hamburger Attraktionen.
"Das ist ein alter Jastram mit drei Zylindern und acht Liter Hubraum pro Zylinder, also 24 Liter insgesamt." Geradezu ehrfurchtsvoll inspiziert Rudi Reiland den alten Motor der Barkasse "Johann Hinrich Wichern". Der 71-Jährige bereitet das Schiff für die heutige Tour vor. Er gehört heute zusammen mit Karl Peter Faeseke und der Diakonin Christel Zeidler zur Schiffscrew der "Johann Hinrich Wichern".
Pünktlich um zehn Uhr heißt es: Leinen los! "Jetzt fahren wir hier über die Elbe rüber auf die andere Seite in den Reiherstieg, dann fahren wir den Reiherstieg runter." Die Barkasse tuckert gemütlich durch den Hafen, doch bummeln darf sie heute nicht. "Wir haben das Problem, dass wir heute Nachmittag früh Niedrigwasser haben. Und wir können nur anlegen, wenn wir hier mindestens 1,5 Stunden vor Niedrigwasser sind. Insofern haben wir eine relativ kurze Tour", erklärt der Schiffsführer.
Seelsorge mit Gastgeschenken für die Seeleute
Über eine App, die alle Schiffe im Hamburger Hafen genau identifiziert, hat Rudi Reiland vorher ermittelt, wo Binnenschiffe liegen, die die "Wichern" heute anfahren kann. "Das ist Seelsorge im allerweitesten Sinne", meint Diakonin Christel Zeidler, die Seelsorgerin an Bord. "Das ist keine tiefgreifende, stundenlange fast therapieartige Seelsorge, sondern wir bieten uns den Menschen an. Wir bringen kleine Gastgeschenke in Form von Schokolade, die sehr beliebt ist bei den Seeleuten, ein bisschen Obst und Tagespresse."
Das dicke Geld für Hamburg und den Hafen bringen die großen Kähne. Die Interessen der Binnenschiffer, die im Norden vor allem auf Elbe und Weser sowie den Kanälen unterwegs sind, werden da oft vernachlässigt, klagt Christel Zeidler. Sie müssten manchmal weit draußen liegen und hätten teilweise auch keine Elektrizität. "Das ist allgemein im Hafen bekannt, aber leider hat sich in den letzten Jahren sehr wenig getan."
Binnenschifferseelsorge seit 1870
Der Hamburger Pastor Johann Hinrich Wichern, nach dem das Schiff benannt ist, gilt als der Begründer der Diakonie. 1870 begann er mit der Flussschifferseelsorge, um jenen Menschen zu helfen, die so gut wie keinen Kontakt zur Kirche hatten. Daran hat sich bis heute allerdings wenig geändert. "Das ist nicht im klassischen Sinne eine Gemeinde, aber die Kirche muss dort hingehen, wo die Menschen sind. Und deshalb hat er die Binnenschifferseelsorge gegründet, und deshalb fahren wir zu den Menschen hin, weil die nicht mehr von Bord kommen."
Binnenschiffer seit 33 Jahren
Schiffsführer Rudi Reiland läuft das erste Binnenschiff an und legt steuerbord vorsichtig an. Auf der "Stör" arbeiten zwei Seemänner, einer kommt aus Syrien: Er ist ein vor dem syrischen Bürgerkrieg geflüchteter Seemann, der nun hier auf dem Binnenschiff anheuert. Die beiden fahren für ein Futtermittel-Unternehmen und schippern regelmäßig zwischen Beidenfleth an der Stör und dem Hamburger Hafen. Heute laden sie Palmkernexpeller. Die Corona-Pandemie hätten sie bislang gut überstanden und würden davon wenig merken. Von Hamburg nach Beidenfleth ist das Schiff rund sechs Stunden unterwegs - die übliche Route. Seit 33 Jahren arbeitet der Mann nun schon als Binnenschiffer auf der Elbe.
Binnenschiffer in der siebten Generation
Schiffswechsel zu Klaus Hohenbild mit seinem Schiff, der "Catharina". "Ich komme aus der Generation, da musste man für den Hamburger Hafen auch noch extra ein Patent machen und dann haben Sie hier das Hafenbecken auswendig gelernt", erzählt er, während er im Führerhaus steht. Eigentlich ist er seit Kurzem im Ruhestand. Aber er springt in dem Familienunternehmen noch öfter ein. Jetzt ist er mit seinem Sohn und seinem Bruder unterwegs. "Ein normaler Fahrtag ist eigentlich 14 bis 16 Stunden lang. Gut, man löst sich aber ab hier. Für einen Laien hört sich jetzt 16 Stunden viel an, aber weil man sich ablöst, ist es stressfrei."
Vom Steuerhaus aus kann Klaus Hohenstein das Schiff und den Kanal gut überblicken. Ein Steuerrad sucht man hier vergeblich, stattdessen gibt es viele elektronische Kontrollanzeigen. "Ich bin noch groß geworden mit einem Handruder, mit einem richtigen Steuerrad, wo sie dann auch noch die Schraubenkraft in der Hand gespürt haben." Die Hohenbilds sind Flussschiffer in der siebten Generation. Noch immer sind viele Binnenschiffer als so genannte Partikuliere mit ihrem eigenen Schiff unterwegs und transportieren vor allem Massengüter, für die Lkws und Güterwaggons zu klein sind.
Ein Gefühl der Geborgenheit im Kirchenschiff
Das Boot der Flussschifferkirche ist ein ehemaliger Weserleichter, der schon im Zweiten Weltkrieg zum Einsatz kam, und wurde Anfang der 50er-Jahre zu einem Kirchenschiff umgebaut. Heute ist das marineblaue Schiff mit den Kirchenfenstern und dem Kreuz ein Blickfang - auch für Touristen. Wenn man in der Kirche steht, dann schwankt es schon mal, sagt Pastorin Sabine Förster: "Das erste, was mir immer zurückgemeldet wird, ist dieses Anheimelnde durch die Architektur. Es ist rundum Holz und oben sind diese Fenster - auch wie Kirchenfenster - eingebaut und stellen Szenen da aus der Schifffahrt, vor allem aus der Binnenschifffahrt. Und das ist das Besondere, dass man das Gefühl hat, man sitzt auf einem Schiff und gleichzeitig geborgen wie in einer Kirche - oder symbolisch gesehen: geborgen in Gottes Hand."
Weniger Binnenschiffe im Hafen
Die Anzahl der Flussschiffe im Hafen habe stark nachgelassen, berichtet Rudi Reiland. "Also vor vier Jahren, als ich damals angefangen habe, da haben wir bei so einer Tour, gut, die ging damals von 10 bis ungefähr 15 Uhr, also knapp fünf Stunden, da haben wir in der Zeit 18 oder 20 Schiffe getroffen. Heute ist es nicht mal mehr die Hälfte." Die "Wichern" kehrt pünktlich vor dem Tiefpunkt der Ebbe zurück zur Flussschifferkirche, zum Kehrwiedersteg. Die beiden Schiffsführer sind trotz des Regenwetters zufrieden, für Diakonin Christel Zeidler war es nicht so ergiebig. Bei dem Wetter hatten die wenigsten Binnenschiffer Lust, sich länger über Gott und die Welt zu unterhalten. Aber Zeidler weiß: Es kommen auch wieder bessere, sonnige Tage.