Speicherstadt: Ein Wohnviertel wird Warenlager
Ein bautechnisches Meisterwerk auf Eichenpfählen: Am 29. Oktober 1888 weiht Kaiser Wilhelm II. die Hamburger Speicherstadt ein. Tausende Arbeiterwohnungen, aber auch Bürgerhäuser mussten den Lagerhäusern weichen.
"Zur Ehre Gottes, zum Besten des Reichs, zu Hamburgs Wohl!" Mit diesen Worten und drei kräftigen Schlägen mit einem silbernen Polierhammer weiht Kaiser Wilhelm II. am 29. Oktober 1888 den ersten Abschnitt der Speicherstadt ein. Höchstpersönlich setzt er den Schlussstein der neuen Brooksbrücke, einem der Zugänge zu dem hochmodernen Lagerhausquartier im Hamburger Hafen.
Nur knapp fünf Jahre Bauzeit für den ersten Abschnitt
Der feierlichen Eröffnung, zu der die Hamburger Bürger einen arbeitsfreien "Kaisertag" erhalten, ist ein beispielloser technischer und logistischer Kraftakt vorangegangen: Nicht einmal fünf Jahre hat es gedauert, bis die Hamburger den ersten Abschnitt der Speicherstadt fertig gestellt haben - vom ersten Geländeplan bis hin zu den fertigen Lagerhäusern samt dazwischenliegenden Straßen, Brücken und Fleeten.
Ein Areal für zollfreies Lagern von Waren
Erst im Frühjahr 1883 fällt die endgültige Entscheidung, auf den südlich der Innenstadt gelegenen Elbinseln Kehrwieder und Wandrahm eine Speicherstadt anzulegen. Zuvor hat es eine längere Auseinandersetzung zwischen Hamburg und dem Deutschen Reich über den Zollanschluss gegeben: Am Ende erkämpft der Hamburger Senator und spätere Bürgermeister Johannes Versmann für die Hansestadt das Recht, weiterhin ein Freihafengebiet festlegen zu dürfen. Dort sollen die Kaufleute - wie zuvor in der gesamten Stadt - ihre Waren zollfrei lagern und veredeln dürfen. Mit dem Bau und der Verwaltung des Speicherstadt wird die im März 1885 gegründete Hamburger Freihafen-Lagerhaus-Gesellschaft - heute HHLA - betraut.
20.000 Menschen müssen weichen
Das Areal an Wandrahm und Kehrwieder, für das sich der Senat mit nur acht zu sieben Stimmen entscheidet, liegt günstig: In direkter Nachbarschaft befindet sich der 1866 eingeweihte Sandtorhafen, der mit seinen modernen Kaianlagen als einer der schnellsten Häfen der Welt gilt. Doch das Gebiet ist alles andere als brachliegendes Bauland: Rund 20.000 Menschen leben in den engen Gängevierteln Kehrwieder- und Wandrahm, vor allem Hafenarbeiter. Aber auch wohlhabende Kaufleute residieren dort in prächtigen barocken Bürgerhäusern. Sie alle müssen dem neuen Lagerhauskomplex weichen.
1. November 1883: Der Abriss beginnt
Am 1. November 1883 beginnt der Abriss am Kehrwieder. Eine Entschädigung erhalten nur die Eigner der rund 1.000 Häuser, die abgerissen werden. Die Mieter müssen sich auf eigene Faust neuen Wohnraum suchen. Sie siedeln in die Stadtteile Winterhude, Barmbek, Horn oder Rothenburgsort um. Dort zahlen sie höhere Mieten und müssen fortan einen weiten Fußweg zur Arbeit zurücklegen.
Ein Schatzkästlein für die Wirtschaft
Die Oberaufsicht über das Großprojekt liegt in der Hand des Bauingenieurs Franz Andreas Meyer, einem Anhänger der neugotischen Hannoverschen Schule. Bis heute prägen die typischen Merkmale dieses Baustils mit seinen Erkern, Schmuckgiebeln und Sandsteinornamenten die Bauten der Speicherstadt. Als "gigantisches Schatzkästlein der Hamburger Wirtschaft" bezeichnete es einmal der Kunsthistoriker Hermann Hipp.
Gegründet auf Millionen von Eichenpfählen
Eine technische Besonderheit ist das Fundament der Speicherstadt: Die Bauten ruhen auf rund 3,5 Millionen Eichenpfählen, die bis zu zwölf Meter tief in den weichen Schlick gerammt wurden. Die Gebäude selbst werden zunächst mit vorgefertigten Eisenträgern erbaut. Doch schon bald zeigen sich die Nachteile dieser Konstruktionsweise: Bei einem Brand glühen die Eisenstützen sehr schnell durch und bringen so das gesamte Gebäude zum Einsturz. Nach dieser Erfahrung greift man auf die traditionelle Holzkonstruktion mit Stützen aus schwer brennbarem Eichenholz zurück.
Lagerhäuser mit moderner Technik
Alle Lagergebäude sind sowohl von der Straße als auch von Fleeten aus erreichbar, die zum Teil neu angelegt werden. Über Luken können die Waren mit hydraulischen Winden von den Schuten aus in die Speicherböden transportiert werden. Die Speicherstadt ist außerdem der erste größere Gebäudekomplex in Hamburg, der innen und außen vollständig elektrisch beleuchtet wird. Die notwendige Energie liefern die Dampfmaschinen des 1887 fertig gestellten Kesselhauses.
Bis 1927 wächst die Speicherstadt
Bis 1889 entstehen im ersten Bauabschnitt die Blöcke A bis O, die etwa 60 Prozent der gesamten Lagerfläche ausmachen. Zwischen 1891 und 1897 wird die Speicherstadt durch die Blöcke P, Q und R am St. Annenufer erweitert. In einem dritten Bauabschnitt entstehen zwischen 1899 und 1927 mit Unterbrechungen durch den Ersten Weltkrieg und die Inflationsjahre die Blöcke S bis X östlich der Straße "Bei St. Annen". Ein ursprünglich geplanter vierter Bauabschnitt auf der Ericusspitze wird nicht mehr verwirklicht.
1943 zerstören Bombenangriffe ganze Blocks
Im Zweiten Weltkrieg werden über die Hälfte der Speicherstadt-Gebäude beschädigt oder zerstört. Der mit dem Wiederaufbau beauftragte Architekt Werner Kallmorgen lässt einen Teil in enger Anlehnung an die Originalbauten wiedererrichten, an anderer Stelle erbaut er komplett neue Gebäude, darunter etwa das 1952/53 erbaute ehemalige Freihafenamt, ein markanter, quadratischer Backsteinbau. Die Blöcke A, B, C und J werden nicht wieder aufgebaut. An ihrer Stelle steht heute das in den 1990er-Jahren errichtete Hanseatic Trade Center. Diese Gebäude greift die Backstein-Optik der Speicherstadt wieder auf.
Die Speicherstadt heute
Mit dem Siegeszug der Containerschifffahrt verliert die Speicherstadt ab den 1970er-Jahren nach und nach ihre ursprüngliche Funktion. Außer Teppichen lagern dort heute kaum noch Waren. Stattdessen nutzen Werbeagenturen, Gastronomiebetriebe und Ausstellungen wie das Miniatur Wunderland oder das Speicherstadtmuseum die alten Speicher. Seit 1991 steht der Lagerhauskomplex unter Denkmalschutz. Seit Juli 2015 ist die Speicherstadt UNESCO-Weltkulturerbe. In den 2010er-Jahren kommt der Gedanke auf, dass man in den historischen Bauten, für die einst Tausende Menschen ihre Wohnungen verloren, doch auch wieder wohnen solle. Erste Pläne dafür werden schnell entwickelt. Allerdings zeichnet sich auch ab, dass das Potenzial nicht so groß ist wie gedacht. Ein ernstes Problem ist der nicht ausreichende Hochwasserschutz. Denn: Die Speicherstadt liegt tiefer als die neu gebaute Hafencity. Umbauarbeiten würden hohe Kosten nach sich ziehen. Deshalb können dort nur begrenzt Wohnungen entstehen.