Als 20.000 Hamburger der Speicherstadt wichen
Wo heute die Hamburger Speicherstadt steht, lebten einst Zehntausende Menschen, zum großen Teil Hafenarbeiter. Historische Fotos von Georg Koppmann zeigen die Wohnviertel im Jahr 1883 - kurz vor ihrem Abriss.
Die Bilder sind wie Grüße aus einer längst vergangenen Zeit: Der Hamburger Fotograf Georg Koppmann (1842-1909) hat im Herbst 1883 die Straßenzüge festgehalten, die ab dem 1. November 1883 für den Bau der Speicherstadt abgerissen werden sollten. Die Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg hat die Abzüge digitalisiert. Und so sind die zeitgenössischen Dokumente für eine breite Öffentlichkeit leicht zugänglich. Die historischen Aufnahmen sind ein Schatz, der eine Zeitreise ermöglicht. In eine Zeit, als die Elbinseln Kehrwieder und Wandrahm noch ein dicht besiedeltes Wohnquartier waren. In den 1880er-Jahren wird das Gebiet dann "zur hochmodernen und nichtbewohnten Speicherstadt" umgestaltet, wie Historiker Olaf Matthes vom Museum für Hamburgische Geschichte schildert. Rund 1.000 Häuser werden abgerissen. Mehr als 20.000 Menschen müssen weichen - vor allem Hafenarbeiter und Handwerker mit ihren Familien.
Arbeiterhäuser und Stadtpalais
"Die einfachen Hafenarbeiter wohnten vor allem auf der Elbinsel Kehrwieder - entsprechend schlicht waren dort die Häuser", erzählt Matthes. Ganz anders habe es auf dem Wandrahm ausgesehen. Dort fanden sich auch viele Häuser mit Steinfassade. "Das waren mitunter richtige bürgerliche Palais, in denen Senatoren wohnten", weiß Matthes. Aber auch die Häuser der Reichen bleiben nicht verschont.
Georg Koppmann: Vom Schlachter zum gefeierten Fotografen
Georg Koppmann fotografiert die Häuser und Straßenzüge kurz vor Beginn der Abrissarbeiten. Und zwar im Auftrag der Stadt, genauer gesagt im Auftrag der Baudeputation. Koppmann hatte sich einen Namen als hervorragender Architektur-Fotograf gemacht. 1865 gründete er sein Atelier - das Geschäft befand sich zunächst am Neuen Wall 38, später in der Neustadt. Möglicherweise brachte er sich das Fotografieren selbst bei - denn eigentlich hatte er den Beruf des Schlachters gelernt.
Etwa vier Mark pro Abzug
Als der Bau der Speicherstadt beschlossenen Sache ist, soll Koppmann 1883 "photographische Aufnahmen der abzubrechenden Theile der Kehrwieder-Wandrahminsel" herstellen. Koppmann soll drei Abzüge pro Motiv liefern, jeder Abzug wird mit etwas mehr als vier Mark vergütet. Für die Erfassung der Abrissviertel macht die Baudeputation exakte Vorgaben. Ein Großteil der Aufnahmen erfolgte auf 30 mal 40 Zentimeter großen Glasplatten.
Für Hafenarbeiter unerschwinglich
Anfang Dezember 1883 erscheint dann das erste Hamburger Mappenwerk Koppmanns: "Hamburg 1883. Aufnahmen der niederzulegenden Stadttheile". Darin enthalten sind unter anderem sieben Aufnahmen von Straßenszenen auf dem Kehrwieder und acht Aufnahmen vom Grasbrook. Alle Bilder sind auf den Oktober 1883 datiert - sie entstanden aber wohl in der Zeit von September bis November 1883. "Der Preis der Fotomappe belief sich auf 140 Mark. "Manchmal wurde das Mappenwerk aber auch für 250 oder 300 Mark angeboten", erzählt Historiker Matthes. Das sei für die damalige Zeit extrem teuer gewesen. Ein gut verdienender Hafenarbeiter habe damals 80 Mark pro Woche erhalten.
Zur Orientierung: Ein Stadtplan von 1868 mit den alten Straßennamen - zum Zoomen
"Hochgradig kostbar"
Wie viele Exemplare der Mappe entstanden, ist unklar. "Es waren wohl mindestens 100 Stück, vielleicht auch 250 - aber das wäre schon sehr viel", sagt Matthes im Gespräch mit NDR.de. Das Werk sei Ende des 19. Jahrhunderts auch an Sammler in den USA gegangen, weil es auf der Weltausstellung 1893 in Chicago präsentiert wurde. Wer es heute noch besitzt, kann sich glücklich schätzen. "Das Mappenwerk von Georg Koppmann ist hochgradig kostbar", meint Matthes.
Vorbild für die Abriss-Dokumentation ist Paris
Warum aber entschied sich damals die Stadt Hamburg die Abrissviertel zu dokumentieren? Nun, Vorbild dürfte Paris gewesen sein. Die französische Hauptstadt hatte bereits in den 1860er-Jahren einen Fotografen beauftragt, den dramatischen städtebaulichen Wandel in der französischen Stadt festzuhalten. Er sollte die Straßenzüge und Teile der Stadtviertel dokumentieren, die für den Umbau zu einer modernen Metropole weichen mussten. So entstanden 425 Fotografien als "behördliche Dokumente", die das verschwundene Paris zeigen. Ein Teil der Werke führte Frankreich 1873 auf der Weltausstellung in Wien vor. Zahlreiche offizielle Vertreter Hamburgs besuchten die Weltausstellung, unter ihnen Beamte aus der Baudeputation.
Verdienstmedaille auf Weltausstellung
Auch Georg Koppmann präsentiert etliche seiner Fotografien auf der Weltausstellung - "seine Arbeiten fanden besondere Beachtung", wie Olaf Matthes in dem Buch "Stadt Bild Wandel" schreibt. Koppmann erhält eine der insgesamt 13 Fotografier-Verdienstmedaillen, die für Architektur-Aufnahmen zur Weltausstellung vergeben wurden.
Nach ihrer Rückkehr von der Weltausstellung nimmt sich die Hamburger Baudeputation bald vor, künftig "bei allen größeren baulichen Umgestaltungen den bisherigen Zustand durch photographische Aufnahmen zu fixieren". Georg Koppmann erhält zwar keinen festen Vertrag, aber er wird "der mit Abstand wichtigste Fotograf für die Baudeputation" (Matthes). Zu seinen Aufträgen zählt auch die Dokumentation des neu errichteten Gaswerks Barmbeck und des weiteren Ausbaus des 1866 eingeweihten Sandtorhafens. Für Koppmann sollte die Hamburg Baudeputation über mehrere Jahrzehnte hinweg ein verlässlicher Auftraggeber sein.
Auch den Kaiser abgelichtet
So hält Koppmann auch die Zollanschlussfeier am 29. Oktober 1888 fest - eine Art Eröffnungsfeier für die neu errichtete Speicherstadt. Auch Kaiser Wilhelm II. kommt zur symbolträchtigen Schlusssteinsetzung in die Hansestadt. Der Fotograf soll im Auftrag der Baudeputation alle wichtigen Programmpunkte des Tages dokumentieren. Die Menschen, die hier einst lebten, sind längst weg. Sie sind vor allem in die Stadtteile Barmbek, Hammerbrook und Eimsbüttel gezogen. Der Senat entschädigt die Hauseigentümer, aber nicht diejenigen, die dort zur Miete wohnten.
Einer der bedeutendsten Dokumentar-Fotografen
Georg Koppmann stirbt schließlich am 4. Juli 1909, er wird auf dem Ohlsdorfer Friedhof beigesetzt. Sein Foto-Geschäft leitet zunächst von seinem Sohn Gustav weiter. Heute gilt Georg Koppmann als einer der bedeutendsten Hamburger Dokumentar-Fotografen im letzten Drittel des 19. und im frühen 20. Jahrhundert. "Allein der beachtliche Umfang seines Schaffens in einem Zeitraum von etwa 40 Jahren sowie die durchgängig hohe Qualität erheben seine Hamburg-Aufnahmen zu bedeutenden Zeugnissen des stadträumlichen Wandels", urteilt Matthes.