Deponie Schönberg in Mecklenburg-Vorpommern 1993 © picture-alliance/ ZB Foto: Jens Büttner

Als der Ihlenberg 1979 zu einer Mülldeponie wurde

Stand: 30.01.2024 19:30 Uhr

Schon zu DDR-Zeiten wurde auf dem Ihlenberg in Mecklenburg Giftmüll gelagert - viel aus dem Westen. Am 30. Januar 1979 fasste das Politbüro den Entschluss, eine der größten Sondermülldeponien Europas zu errichten.

In der Sperrzone zwischen Selmsdorf und Schönberg (heute Kreis Nordwestmecklenburg) - nur 14 Kilometer Luftlinie von Lübeck und lediglich 200 Meter von der nächstgelegenen Siedlung entfernt - werden die Planer auf der Suche nach einem geeigneten Gebiet fündig. Ein Areal rund um den 82 Meter hohen Ihlenberg wird ausgewählt, später die "VEB Deponie Schönberg" gegründet. Mit zähen Bürgerbeteiligungen muss man sich nicht lange aufhalten. Auch eine Bewertung der Bodenverhältnisse hinsichtlich Lage, Tiefe, Grundwasser und Schichtungen fehlt oder wird geheim gehalten.

Erst Bauschutt, dann auch Sondermüll

Das Politbüro der DDR fasst am 30. Januar 1979 den Entschluss, auf diesem Gelände eine Mülldeponie zu errichten. Schon im Mai 1979 rollen die ersten Lastwagen - beladen mit Bauschutt aus dem Raum Lübeck - auf die Deponie. 15.000 Tonnen werden in den ersten Monaten auf den Ihlenberg gebracht. Ab 1980 kommen auch Sonderabfälle dazu. Dieser Umstand wird jedoch zunächst nicht offen kommuniziert. Eine Basisabdichtung, wie sie heute vorgeschrieben ist, ist damals nicht erforderlich. Schon Anfang der 1980er-Jahre werden Stimmen laut, dass die hohe Dioxinbelastung der Abfälle Auswirkungen auf die Gesundheit der Mitarbeiter haben könnte. Doch der giftige Abfall wird weiterhin angenommen.

Reger Ost-West-Grenzverkehr

Lastwagen kippen auf der Mülldeponie ihre Ladung ab. (Aufnahme von 1991) © picture-alliance/ ZB Foto: Jens Büttner
Die Deponie im Osten wird zur Müllkippe des Westens.

Bereits Jahre vor dem Zusammenbruch des Sozialismus gelten auf dem Ihlenberg die Gesetze des freien Marktes. Denn die Beschaffung von Devisen für die notorisch klamme Staatskasse der DDR ist der eigentliche Zweck, den die Deponie erfüllen soll. Das tut sie auch. Auf dem Ihlenberg etabliert die Abteilung Kommerzielle Koordinierung (KoKo) des Ministeriums für Außenhandel der DDR eine ebenso einfache wie erfolgreiche Geschäftsidee: Müll zu Geld machen. Die Müllabfuhr zum Dauertiefpreis, um ein Vielfaches günstiger als im Westen, stößt auf große Nachfrage. Im Nu entwickelt sich ein reger Grenzverkehr von West nach Ost - für Mülltransporte aus der Bundesrepublik und später ganz Europa.

Ihlenberg ist Müllkippe und Goldgrube

Auf der Deponie landet so ziemlich alles, was man im Westen schnell loswerden will: Bauschutt, Hausmüll - auch Giftmüll. Kontaminierter Erdboden vom alten Dubliner Hafen ebenso wie belasteter Schredderstaub aus der Autoverwertung. Auch Fässer mit dem Seveso-Gift Dioxin werden auf dem Ihlenberg vermutet. Was dort so alles vergraben liegt, ist bis heute nicht genau bekannt. Zu DDR-Zeiten scheint die Devise zu gelten: Hauptsache, die Kasse stimmt. Und sie stimmt: Rund 250 Millionen D-Mark soll die KoKo bis zur Wende mit der Deponie für die DDR-Staatskasse erlöst haben. Der Müllhandel wird wie der Kunst-Export und der Gefangenen-Freikauf zu einem ebenso fragwürdigen wie florierenden Geschäftsfeld der KoKo.

Der Schatten des Müllbergs

Deponie Schönberg in Mecklenburg-Vorpommern 1993 © picture-alliance/ ZB Foto: Jens Büttner
Der Müllhandel versprach einträgliche Gewinne.

Den Zusammenbruch der DDR können die Mecklenburger Müll-Millionen freilich nicht abwenden. Der VEB fällt an die Treuhand, das Land Mecklenburg-Vorpommern kauft die Deponie für zehn Millionen D-Mark. Aus dem "VEB Deponie Schönberg" wird die Deponie Ihlenberg. Das Geschäft mit dem Müll verspricht auch nach der Wende sprudelnde Einnahmen. Doch nun zeigt sich immer deutlicher die Schattenseite des Müllbergs. Schon zu DDR-Zeiten hat sich ein undurchsichtiges Geflecht von Geschäftspartnern in Ost und West gebildet, dessen Akteure auch nach der Wende die Beschaffung des Mülls organisieren.

1993 beklagt der Landesrechnungshof ein "Gewinnabschöpfungssystem". Durch die aus Landessicht ungünstig abgeschlossenen Verträge seien Mecklenburg-Vorpommern Einnahmen von rund 100 Millionen D-Mark entgangen. Die vermeintliche Goldgrube entpuppt sich zunächst als Millionengrab.

Politische Folgen

Der ehemalige Staatssekretär im Schweriner Umweltministerium, Peter-Uwe Conrad, und die damalige Umweltministerin Petra Uhlmann. (Aufnahme von 1992) © picture-alliance Foto: Jens Büttner
Die Affäre um den Kauf der Deponie durch das Land kostete 1993 die damalige Umweltministerin Petra Uhlmann und Staatssekretär Peter-Uwe Conrad die Posten.

Einer, der das Land damals bei den Verhandlungen berät, ist der schleswig-holsteinische Anwalt und FDP-Politiker Wolfgang Kubicki. Ein Untersuchungsausschuss des Landtags stellt 1994 erhebliche Ungereimtheiten bei Abschluss der Verträge fest. Kubicki hat für seine Tätigkeit ein Honorar von 860.000 Mark kassiert. Das Land verklagt Kubicki auf Schadenersatz. Es meint, schlecht beraten worden zu sein. Es folgt ein jahrelanger Rechtsstreit, den erst der Bundesgerichtshof zugunsten Kubickis entscheidet. Zwischenzeitlich legt Kubicki wegen der Affäre sein Amt als FDP-Landesvorsitzender nieder, was ihn aber nicht an einem Comeback hindern soll. Im Zuge der Affäre verlieren die damalige Umweltministerin von Mecklenburg-Vorpommern, Petra Uhlmann (CDU), und Staatssekretär Peter-Uwe Conrad (CDU) 1993 ihre Posten.

Schlummernde Gefahren

Der von 1979 bis 2005 befüllte Altteil der Deponie, auf dem auf 60 Hektar rund 18 Millionen Kubikmeter abgelagert worden sind, wird seit 2011 aufwendig versiegelt. Seitdem erfolgt die Ablagerung unter modernen technischen Standards auf einer neuen Müllhalde nebenan. 2011 werden dort 622.000 Tonnen endgelagert, 426.000 Tonnen sind hochgradig schadstoffbelastete Abfälle aus der Müllverbrennung, Bauschutt, Asbest und Bodenaushub. Bürgerinitiativen, Umweltschützer und Parteien fordern immer wieder die Schließung der Deponie.

Wie hoch ist die Krebsgefahr?

Als damals mehrere Mitarbeiter der Deponie bei Schönberg an Krebs erkranken, kommt eine Studie der Universität Greifswald 2002 zu dem Ergebnis, dass durch die Arbeit auf der Sondermülldeponie eine erhöhte Krebsgefahr bestehe. 2008 zeigt eine weitere Untersuchung, dass die Krebsrate unter den Mitarbeitern fast doppelt so hoch ist wie bei der übrigen Bevölkerung. 2023 wird eine Studie des Instituts für Community Medicine der Universität Greifswald veröffentlicht, in der Krebsfälle zwischen 2009 und 2021 untersucht wurden. Die Studie kommt zu dem Schluss, dass ein direkter Einfluss der Deponie auf die Krebshäufigkeit der Bevölkerung im Umkreis nicht nachgewiesen werden könne. Die erhobenen Zahlen lägen nicht über dem Durchschnitt des Landkreises Nordwestmecklenburg.

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Ein Verdichter schiebt auf dem Gelände der Ihlenberger Abfallentsorgungsgesellschaft (IAG) Hausmüll breit. (Aufnahme von 2002) © picture-alliance Foto: Jens Büttner

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Lübecker sorgen sich um ihr Trinkwasser

Das Oberflächenwasser der Deponie wird wegen der teils fehlenden Basisabdichtung als mögliche Gefährdung für das Trinkwasser eingestuft. Ein weiteres Problem: Im Sickerwasser des alten Deponieteils werden erhöhte Werte des radioaktiven Tritiums nachgewiesen. Wie die "taz" berichtet, machen sich die Lübecker auch im Jahr 2018 immer noch Sorgen um die Qualität ihres Trinkwassers. Im Boden der Deponie seien Werte von Cadmium, Zink und Quecksilber festgestellt worden, die im Bereich des 30- bis 100-Fachen des erlaubten Grenzwerts liegen.

Umstrittener Prüfbericht von Revisor Schwesig

In der Deponie der Ihlenberger Abfallentsorgungsgesellschaft (IAG) werden im Jahr 2018 angelieferte Abfälle eingelagert. © picture alliance/dpa Foto: Bernd Wüstneck
Streit gibt es 2018 um einen Prüfbericht zu den eingelagerten Abfällen.

Im September 2018 versetzt ein Prüfbericht die Bürger erneut in große Sorge. Auf der Deponie soll wesentlich mehr und wesentlich giftigerer Sondermüll eingelagert worden sein als zulässig. Darüber hinaus soll es zu wenige Kontrollen gegeben haben. So steht es zumindest in dem Bericht des ehemaligen Chefrevisors der Deponie, Stefan Schwesig. Der Ehemann von Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) erstaunt damit den Betreiber. Den Bericht hat er ohne Kenntnis der Geschäftsleitung der Ihlenberger Abfallentsorgungsgesellschaft (IAG) verfasst, anschließend bittet er um die Beendigung seiner Tätigkeit für die Deponie.

Die Geschäftsleitung moniert, dass der Revisor einige kritisierte Sachverhalte unrichtig oder unvollständig wiedergegeben habe. Außerdem habe er die bundesgesetzliche Deponie-Verordnung ignoriert. Darin genannte Kriterien führten zu ganz anderen Grenzwerten.

Die Zukunft soll im Grünen liegen

Der Bericht ist für die Landesregierung aber Anlass, die Deponie insgesamt infrage zu stellen. Eine möglichst schnelle Schließung wird erörtert. Weil aber auch eine sichere Entsorgung des Sondermülls organisiert werden muss, wird das Jahr 2035 als Schließungsdatum ins Auge gefasst.

Tilmann Schweisfurth soll die Vorgänge rund um die Deponie als Sonderbeauftragter aufklären. Außerdem ist eine seiner Aufgaben, Entscheidungsgrundlagen für notwendige Beschlüsse der Landesregierung zur Zukunftsausrichtung der Deponie zu erarbeiten.

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Und die Zukunft soll eher grün aussehen. IAG-Geschäftsführer Henry Forster zeigt sich im September 2023 optimistisch, dass sich der Ihlenberg zu einem der größten Energieversorger der Region entwickeln könne, mit Solar- und Windenergie, Wasserstoff und Biomasse. Vorgesehen sei ein gemeinsames Energiekonzept mit den benachbarten Orten Schönberg und Selmsdorf. Künftig könnten die Anwohner mit Strom und Wärme vom Ihlenberg rechnen. An der Bundesstraße 104 sollen Elektro- und Wasserstofftankstellen gebaut werden.

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Nordmagazin | 13.07.2023 | 19:30 Uhr

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