Helga Klüver: "Man wird ja in seine Zeit hineingeboren"
Helga Klüver, Jahrgang 1921, verbringt fast ihr ganzes Leben in Eckernförde - nach dem Krieg als leidenschaftliche Mutter und Hausfrau. Und sie feiert gern. Der Fokus auf die Familie bleibt - und die Musik. Ein Jahrhundertleben in Schleswig-Holstein.
Helga Klüver wächst als Einzelkind in Eckernförde auf. Ihr Vater weckt in ihr die Leidenschaft für Musik. Nach der Schule lernt sie Erzieherin, im Zweiten Weltkrieg arbeitet sie als Hilfslehrerin. Als ihr Mann 1948 aus russischer Gefangenschaft zurückkehrt und als Bauingenieur in Kiel arbeitet, bleibt Helga Klüver zu Hause bei den zwei Töchtern. Später lebt die Familie am Eichberg in einer tollen Gemeinschaft - und es wird viel gefeiert. "Wir hatten einen enormen Nachholbedarf", erzählt sie dem NDR für die Dokumentation "Jahrhundertleben".
Unbeschwerte Tage am Eckernförder Strand
Helga Klüver kommt als geborene Wernick am 3. April 1921 in Eckernförde zur Welt. Dass sie keine Geschwister hat, bereitet ihr Kummer. Doch von ihrem Wohnort, der Mädchen-Bürgerschule an der Reeperbahn, ist es nur einen Steinwurf zum Strand. Nach der Schule verbringt sie dort viele Nachmittage, in den Ferien oft ganze Tage, spielt mit anderen Kindern Völkerball. "Mittags kam meine Mutter mit Frikadellen oder irgendwelchen Leckereien", erinnert sich Helga Klüver an gemütliche Stunden im Strandkorb. Ihr Vater unterrichtet an der Knabenschule. Er ist der Meinung: "Jungs, die müssen mal ein bisschen was vorn Hintern haben." Mädchen hingegen müsse man mit Blicken regieren. "Und das konnte er ganz gut." Wenn Helga "ungezogen" ist, habe ihr Vater sie links liegen gelassen. "Das mochte ich nicht haben."
"Es gab nicht alle naslang etwas Neues"
Schon früh bestimmt die Musik Helgas Leben: Besonders ihr Vater ist sehr musikalisch, er singt Bassbariton und spielt Klavier. Hausmusik steht bei den Wernicks auf der Tagesordnung. Auch Helga lernt Klavierspielen. Zeitweise besitzen sie sogar zwei Instrumente: "Und dann haben wir zu zweit gespielt, ich in meinem Zimmer und er im Wohnzimmer. So, dass wir uns sehen konnten." Das sei herrlich gewesen. Doch ein Leben im Überfluss führt die Familie in den "Goldenen Zwanzigern" nicht, als Lehrer verdient Helgas Vater rund 350 Reichsmark. Das sei nicht allzu viel gewesen. Ihre Eltern sind sehr sparsam, ihre Mutter sei in der Weimarer Zeit mit 20 Reichsmark in der Woche ausgekommen. Deshalb habe es nicht alle naslang etwas Neues gegeben. Kleidung wird geflickt oder verlängert. "Ich wurde nicht verwöhnt", resümiert Helga Klüver.
Zukünftiger Mann ist studentischer Untermieter
Politik ist in Helgas Familie kein Thema, auch nicht in der NS-Zeit. Ihr Vater glaubt, als Beamter nicht in "die Partei" gehen zu müssen - tritt dann aber doch in die NSDAP ein und ist schließlich in der SA. Allerdings habe ihm der ganze "Plünnenkram" nicht gefallen, so Helga Klüver. Sie selbst nimmt im Bund Deutscher Mädel (BDM) an "Heimatabenden" und Radtouren teil: "Wir fanden das als Kind alles sehr schön."
Als Jugendliche freundet sich Helga mit dem studentischen Untermieter in der elterlichen Wohnung an - und im Laufe der Zeit entwickelt sich daraus eine Beziehung. "Mein Mann hat als Student bei uns gewohnt, oben in dem Zimmer." Als Helga 18 ist, verlobt sie sich mit Dieter. Ihr Vater habe zwar gewollt, dass sie sich erst mal ein bisschen umtut in der Welt. "Na ja, aber das ging doch ganz gut", sagt Helga Klüver über die Verbindung.
Hochzeit im "dicksten Krieg" und Bombennächte
Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs muss sich das Paar trennen: Helgas Zukünftiger wird 1939 gleich eingezogen. Helga arbeitet als Erzieherin, überwiegend in Kindergärten in der Nähe von Hamburg. Drei Jahre später, am 17. Juni 1942, heiraten Helga und Dieter - im "dicksten Krieg" und im kleinen Kreis. Es ist keine besonders prunkvolle Hochzeit. Als ihr Vater 1943 an Tuberkulose stirbt, spricht Helga Klüver beim Schulrat vor - sie will zurück zu ihrer Mutter in die alte Lehrer-Wohnung nach Eckernförde. Mit ihrer pädagogischen Erfahrung und weil Lehrermangel herrscht, wird Helga als Hilfslehrerin angestellt. 1943 bekommt Dieter Klüver Heimaturlaub, im Jahr darauf wird die erste Tochter Ingrid geboren. Auch Helga erlebt den Krieg hautnah: "Es gab immer Alarm." Oft muss sie mit ihrer Mutter und dem Baby in einen Bunker flüchten. "Wären wir in der Schule geblieben, wäre das Selbstmord gewesen." Manchmal seien ihnen Splitter um die Ohren geflogen. "Aber wir haben das ja immer geschafft."
Zwischen Kriegstrauma und neuer Lebenslust
Nach dem Kriegsende muss Helga Klüver lange auf die Rückkehr ihres Mannes warten: 1948 kommt er aus russischer Kriegsgefangenschaft nach Hause - da ist seine Tochter schon fast vier Jahre alt. Der Krieg habe Dieter verändert, er sei nicht mehr derselbe gewesen, so Klüver. Mangelernährt habe er wenig gesprochen, weder vom Krieg noch von der Gefangenschaft, also immer nur das Nötigste. Aus heutiger Sicht hätte er psychologische Betreuung haben müssen, sagt sie.
Dieter beginnt wenig später, in Kiel als Bauingenieur zu arbeiten. Er hilft beim Wiederaufbau der Stadt: "Kiel war ja ein einziger Schutthaufen, früher." Besonders nachts muss er oft die Straßen "schütten". Helga Klüver kümmert sich um Haushalt und Kinder, 1951 wird die zweite Tochter Elke geboren. Materiell geht es den Klüvers gut: "Wir haben überhaupt nicht leiden müssen." Sie regelt auch die finanziellen Angelegenheiten der kleinen Familie. "Da sagte mein Mann mal zu mir: 'Eigentlich brauchst du mich gar nicht'", erzählt Helga Klüver und fügt hinzu: "Ich war ja nun ein selbständiger Mensch, der alles betüddeln musste und alles selber ordnen musste."
"Wir hatten einen enormen Nachholbedarf"
In ihrem Haus am Eichberg treffen sie sich häufig mit ihren Freunden, sie seien acht Paare gewesen und "gefeiert wurde alles, was nicht niet- und nagelfest war", erinnert sie sich. Der Nachholbedarf sei riesig gewesen, denn: "Wir konnten, weiß Gott, jahrelang nicht feiern." Auch wenn die Kinder Geburtstag haben oder Auszeichnungen bekommen, begehen sie diese Anlässe gemeinsam. Auch die Musik kehrt wieder ein in das Leben von Helga Klüver: In ihrer Wohnung steht wieder ein Klavier, sie spielt und ihre Mädchen tanzen dazu "wie die Elfen". Aber sie engagiert sich auch im Hausfrauenbund. Dort "beschnacken sie hausfrauliche Dinge". Mit der Organisation unternimmt sie darüber hinaus Ausflüge und Reisen. "Wir haben immer viel Spaß gehabt."
"Ich füllte die Lücke irgendwie aus"
Ein großer Wendepunkt im Leben ist der Tod ihres Mannes 1982. "Wir waren 40 Jahre verheiratet und dann starb mein Mann an einer Lungenkrankheit", erzählt Helga Klüver. Plötzlich allein zu leben, ein völlig neues Leben zu führen - ein echter Lernprozess. Nochmal zu heiraten oder sich auch nur zu verlieben, kommt für sie nicht infrage. Doch sie füllt die gerissene Lücke aus. Sie hilft der jüngeren Tochter im Haushalt und kümmert sich verstärkt um ihre Enkelkinder. Die zwei Jüngsten schlafen oft und gerne mit im großen Bett - "einer auf Ritze, einer in Opas Bett".
Musik als roter Faden im Leben von Helga Klüver
Nichtstun ist jedenfalls auch mit 100 Lebensjahren noch keine Option für Helga Klüver. Morgens kocht sie sich einen Kaffee, schüttelt ihr Bett auf und macht in ihrer Seniorenwohnung klar Schiff - "wie sich das so gehört". Und dann liest sie ihre Zeitung und läuft eine Runde durchs Haus. Für Wege nach draußen nimmt sie den Rollator. Außerdem versucht sie, einmal in der Woche Skat zu spielen. Geblieben ist Helga Klüver bis heute ihre Liebe zur Musik. Noch immer holt sie gelegentlich das Keyboard heraus und singt dazu. Bis vor wenigen Jahren hat sie so auch ihre Mitbewohner in der Eckernförder Wohnanlage regelmäßig in Stimmung gebracht. Dass auch ihre Enkelkinder musikalisch sind, freut sie ganz besonders. Auf einem ihrer Geburtstage haben sie ihr ein Abba-Medley als Ständchen gebracht. Wenn die Familie zusammen gesungen habe, habe sie das immer genossen.
"Heutzutage bin ich ein Luxusweib"
Überhaupt ist Helga Klüver stolz auf ihren Nachwuchs: die zwei Töchter, fünf Enkel, acht Urenkel und ein Ururenkelkind. Die Familie sei ihr immer sehr wichtig gewesen. Aus Geben ist nun Nehmen geworden: Ihre Töchter sind stets für sie da, kaufen ein oder frisieren sie. "Ich muss ehrlich sagen, heutzutage bin ich ein Luxusweib." Rückblickend betrachtet habe sie keine schlimmen Zeiten gehabt. Und sie habe immer manierlich gelebt.
"Ich bin dankbar für mein Leben", sagt Helga Klüver. Sie habe ein gutes Leben gehabt, nicht mit so viel Trara. Was sie am Leben hält, sei höhere Bestimmung. An den Tod denke sie dennoch jeden Tag, obwohl sie "gesund ist". 100 Jahre seien ein erfülltes Leben. "Und nun ist auch gut."