Ingeborg und Heinz Möller: "Wir haben uns sofort verstanden"
Ingeborg und Heinz Möller, beide Jahrgang 1923, lernen sich im Krieg kennen. In Barth erleben sie Kriegsende, Wende und den Tod ihrer Töchter. In "Jahrhundertleben" blicken sie zurück auf 76 Jahre Ehe voller Höhen und Tiefen.
Als sich die Wege von Heinz und Ingeborg Möller im August 1944 kreuzen, sind sie gerade mal 21 Jahre alt. Mittlerweile sind beide 98 - und seit 76 Jahren verheiratet. Ihre Kronjuwelenhochzeit haben sie im vergangenen Jahr mit der Familie groß gefeiert. Ihr Rezept für eine glückliche Ehe und einen langen gemeinsamen Lebensweg: "Uns ist es immer gut gegangen und dann läuft das." Außerdem dürfe man nicht immer nur die eigenen Interessen sehen, auch die des Partners müsse man beachten, sagt Heinz Möller. "Schauen, dass man es so macht, dass es für beide gut ist." Ingeborg Möller, genannt Inge, hat dabei so manches Mal auf Durchzug geschaltet: "Wenn man einen Mann hat, der immer gerne das Wort hat, da ist man lieber ruhig und sagt: Lass ihn mal lieber reden", erzählt sie dem NDR für die Dokumentation "Jahrhundertleben".
Kindheit zwischen Strenge und Freiheiten
Heinz Möller, geboren am 28. Mai 1923, wächst in Barth auf. Dort betreiben seine Eltern eine Gärtnerei, sein Vater handelt mit Gemüse. Einmal in der Woche seift ihn die Mutter in einer Blechwanne ab - "das sei so ein Zirkus gewesen", erinnert er sich. Zum Geburtstag gibt's jedes Mal einen Ball: "am Vormittag übergeben und am Abend war der kaputt." An Ballspiele kann sich auch Inge Möller gut erinnern: "Das war so üblich, Völkerball spielen." Sie kommt am 14. Oktober 1923 als Ingeborg Fabricius in Stolp (Hinterpommern) zur Welt, rund 450 Kilometer von Barth entfernt. "Ich war denn auch im Turnverein, und da wird dann auch Geräteturnen gemacht."
Der junge Heinz muss als Kind artig sein. Hat er etwas ausgefressen, flüchtet er sich vor Prügeln seines Vaters zu seinem Onkel Ernst, der ein paar Häuser weiter wohnt: "Der hat mich dann versteckt", erzählt Heinz Möller. Wenn der Vater ihn suchen kommt, verlangt der Onkel von dem: "Du musst mir aber versprechen, dass du Heiner nichts tust." Inge beschreibt ihren Vater als weniger streng: "Wenn ich irgendetwas wollte, bin ich zu meinem Vater." Auch noch, als sie älter ist und ihren zukünftigen Mann besuchen will. "Da sagte meine Mutter: 'Das kommt gar nicht in Frage.'" Der Vater sei da lockerer gewesen: "Ja, fahr man", erinnert sie sich.
Zweiter Weltkrieg: Schwerhörigkeit rettet Leben
Als der Zweite Weltkrieg 1939 beginnt, besucht Heinz Möller die Oberschule in Franzburg. Viele melden sich damals freiwillig zum Kriegsdienst. Auch Heinz - mit einem Notabitur in der Tasche - meldet sich, doch wegen eines Gehörschadens wird er als "nicht kriegsverwendungsfähig" eingestuft. Er wird zwar eingezogen, nicht aber für die Abstellung an die Front vorgesehen. "Und das hat mir praktisch das Leben gerettet. Meine Schwerhörigkeit", sagt er rückblickend. Anders als seine Kumpels muss er nicht nach Russland - er bleibt in der Heimat in einer Garnison in Neubrandenburg. Nebenher spielt er Handball in der Regimentsmannschaft, nimmt fast jedes Wochenende an Turnieren teil.
Inge geht acht Jahre auf die Volksschule, besucht dann eine Haushaltschule und absolviert schließlich eine dreijährige Ausbildung zur Verkäuferin für Oberbekleidung und Strickwaren. Mit Kriegsbeginn wird sie für fünf Jahre zum Kriegshilfsdienst nach Berlin abkommandiert: "Und da habe ich gearbeitet, in Mariendorf in den Askania-Werken. Da mussten wir in Flugzeugteile Nummern einbrennen." Anschließend arbeitet sie ein Jahr in der Heimat auf dem Wirtschaftsamt, bevor sie zum Arbeitsdienst abkommandiert wird.
Tiefflugangriff nur knapp überlebt
Im August 1944 schippt Inge mit einem Trupp Mädchen Panzer-Gräben bei Stolp aus. Heinz Möller ist dort als Ausbilder auf einem Lehrgang für Unteroffiziere. Es ist Liebe auf den ersten Blick: "Wir haben uns sofort verstanden." Sie verbringen Zeit miteinander, angeln und grillen. "Und da waren wir zusammen." Allerdings trennen sich ihre Wege Ende 1944 zunächst wieder. Sie schreiben sich Briefe. Inge wird nach Leipzig abgezogen, lernt dort Scheinwerfer zu bedienen. Schließlich kommt sie nach Jüterbog, um Soldaten zu betreuen. Nur knapp überlebt sie einen Tiefflugangriff: Da habe sie gedacht, das wäre ihr letzter Tag. "Am 20. April 1945 wurden wir entlassen: 'Jetzt könnt ihr nach Hause gehen.'" Doch Inge weiß nicht, wohin sie gehen soll.
Kurz vor Kriegsende: Wiedersehen in Neubrandenburg
Obwohl sie lange nichts von Heinz gehört hat, macht sie sich schließlich auf den Weg nach Neubrandenburg, fragt sich in der Kaserne durch, ob es einen Unteroffizier Heinz Möller gibt. "Ich hatte Glück, dass er da war, und die haben ihn dann geholt." Heinz schickt seine Inge zu seinen Eltern. Die bewirtschaften inzwischen eine Parzelle in Divitz, nachdem sie dorthin umgesiedelt wurden. Obwohl Inge ihre Schwiegereltern in spe noch gar nicht kennt, wird sie gut aufgenommen: "Also besser konnte ich es gar nicht haben." Schließlich holt sie auch ihre Eltern aus Polen und ihre Schwester nach Barth. Anschließend leben sie auf engstem Raum mit zehn Personen bei der Schwiegermutter.
Kriegsende: Hochzeit unter russischer Besatzung
Knapp ein halbes Jahr nach Kriegsende, am 13. Oktober 1945, heiraten Inge und Heinz Möller im kleinen Kreis. Ihre erste Tochter Brigitte ist damals schon unterwegs. Allzu groß feiern kann das Paar seinen großen Tag allerdings nicht - "weil wir von Russen umgeben waren", sagt Heinz Möller. Wenn die am Flugplatz stationierten Soldaten in die Stadt wollen, müssen sie am Haus der Möllers vorbei. Die Sorge: "Die machen doch einen Zirkus hier, die kriegen das doch mit." Also feiert Familie Möller abgeschottet in der Wohnung und ohne viel Lärm. Dafür haben sie für die Verhältnisse in der Nachkriegszeit reichlich zu essen: "Wir haben so viele seltene Lebensmittel gehabt und in reichlichen Mengen, wie wir nachher nie mehr erlebt haben", erinnert sich Heinz Möller. Es gibt Schnaps und viel Gemüse, Obst, Fleisch und Fisch - alles organisiert von Möllers Vater, der die Lebensmittel von befreundeten Bauern und Fischern besorgt hatte.
Nach der Teilung: Auskömmliches Leben in der DDR
Im Abstand von jeweils anderthalb Jahren bekommen die Möllers vier Kindern. Heinz Möller macht eine Ausbildung zum Gartenbauingenieur und übernimmt die Gärtnerei des Vaters, die später in der DDR zum Volkseigenen Betrieb (VEB) wird. "Ich war von '45 bis '60 Zuhause mit den Kindern", resümiert Inge Möller ihre Zeit als Hausfrau. Von 1961 bis 1972 arbeitet sie als Verkäuferin in einem Sportwarengeschäft in Barth.
Mit gemischten Gefühlen blickt Heinz Möller auf die West-Karrieren seiner ehemaligen Mitschüler: Darunter sind Ärzte oder Bauingenieure. "Da haben wir dann mal ziemlich alt ausgesehen. Jeder hat ein dickes Auto." Ganz anders in der DDR: Auf ihren Wartburg müssen die Möllers einige Jahre warten. Sie stottern den Wagen regelrecht ab - "war gebraucht von einem Bauern, war halbwegs abgegolten mit Naturalien, Lebensmitteln und Geld." Sie leben mittlerweile in einer Offizierswohnung für 85 Mark - "das war damals viel Geld." Sie arrangieren sich - "also es lief schon viel über Beziehung." Kleidung für vier Kinder zu besorgen, "war oft nur mit Gegenleistung möglich." Und so habe man versucht, mit den Textilverkäufern in Barth zu tauschen: Obst und Gemüse gegen Bekleidung.
Mauerfall: "Es hätte früher kommen müssen"
Auch Urlaub ist für die Möllers keine Selbstverständlichkeit. Inge fährt mit den vier Kinder einmal für 14 Tage nach Prerow, zweimal verbringt sie mit dem Nachwuchs Ferien im Zentralhotel in Zingst. "Mein Mann kam dann am Wochenende, der musste ja in der Gärtnerei arbeiten. Der konnte seine Leute nicht allein lassen." Aber das sei auch alles gewesen. Trotzdem hadern sich nicht, weil sie nicht schlecht gelebt haben. Sie seien immer gut ausgekommen - auch finanziell. Einzig, was den Mauerfall betrifft, sagt Heinz Möller heute: "Es hätte alles früher kommen können, früher kommen müssen, sodass wir noch ein bisschen was davon gehabt hätten. Aber das war nicht gegeben."
Nach der Wende: Inge und Heinz Möller reisen ins Ausland
Nach der Wiedervereinigung eröffnet sich für die Möllers eine neue Welt: "Da sind wir viel gereist." Sie seien einmal mit dem Bus nach Spanien gefahren: "Das war furchtbar, da waren wir 28 Stunden unterwegs." Aber fliegen konnten sich nicht, "weil mein Mann das mit dem Ohr nicht konnte", erklärt Inge Möller. Weitere Stationen sind Österreich, Holland und Bornholm. Sie hätten nicht gedacht, dass sie so alt werden, so Inge Möller weiter. "Wir dachten nach der Wende: noch fünf, sechs Jahre. Aber sie sehen ja, was daraus geworden ist, wir leben immer noch."
Herzenswunsch: Am nächsten Tag gemeinsam aufwachen
Zwei ihrer Kinder haben die Möllers bereits überlebt, beide Töchter sind an Krebs gestorben. Ein Verlust, über den sie nur schwer hinwegkommen. Beide fühlen sich noch so gesund, dass es zu einem selbstständigen Leben reicht. Die Mobilität sei natürlich gebremst, erzählt Heinz Möller. Dabei ist er noch bis ins hohe Alter Auto gefahren - unfallfrei und ohne jemals ein Knöllchen bekommen zu haben. Im Sommer 2020 überzeugen ihn seine Kinder, den Führerschein abzugeben. Aber es schwingt auch Wehmut mit: "Sie haben einfach mein Auto verkauft, ohne mich zu fragen." Jetzt hoffen die Möllers, gesund zu bleiben und sich noch lange an ihren Kindern, zehn Enkeln, 15 Urenkeln und zwei Ururenkeln erfreuen zu können. Und haben nach 76 Jahren Ehe diesen einen Wunsch: am nächsten Tag wieder gemeinsam aufzuwachen.