Henning Voscherau: Hanseat und leidenschaftlicher Taktiker
Für viele Hamburger war er die Verkörperung eines Hanseaten: Neun Jahre lang leitete der SPD-Politiker Henning Voscherau als Erster Bürgermeister die Geschicke der Hansestadt. Am 24. August 2016 starb er.
"Ein Hanseat gibt sein Wort, und zwar mündlich oder per Handschlag - und er hält es auch", sagte Henning Voscherau einmal und beschrieb sich damit wohl auch ein bisschen selber. Denn Hamburgs langjähriger Erster Bürgermeister war für viele Bürger die Verkörperung eines Hanseaten. Er kam am 13. August 1941 als Sohn des Schauspielers Carl Voscherau in Hamburg zur Welt.
Promovierter Jurist und "geborener Sozi"
Nach dem Abitur am Gymnasium Oberalster in Poppenbüttel studierte Voscherau Rechtswissenschaften und Volkswirtschaftslehre an der Universität Hamburg und promovierte 1969. Von 1974 bis 2011 war er - mit Unterbrechung während seiner Zeit als Erster Bürgermeister - in der Hansestadt als Notar und Rechtsanwalt tätig. Anschließend als Anwalt für Immobilien-, Gesellschafts-, Familien- und Erbrecht in einer Bürogemeinschaft mit seinem Sohn. Zusammen mit seiner Frau Annerose, einer Apothekerin, hatte er drei Kinder.
Voscheraus politische Laufbahn begann 1966 mit dem Eintritt in die SPD, vier Jahre später wurde er in die Bezirksversammlung Wandsbek gewählt, der er bis 1974 angehörte.
"Politik ohne Taktik ist wie Suppe ohne Salz"
Im selben Jahr folgte der Wechsel in die Hamburgische Bürgerschaft und den Fraktionsvorstand der SPD. 1982 bekleidete er das Amt des Fraktionsvorsitzenden seiner Partei und behielt diese Funktion bis 1987. Ein Jahr später trat Voscherau schließlich die Nachfolge des Ersten Bürgermeisters Klaus von Dohnanyi an und ging eine Koalition mit der FDP ein.
Voscherau galt als leidenschaftlicher Taktiker. Politik ohne Taktik sei für ihn "wie eine Suppe ohne Salz", gestand der Sozialdemokrat einmal in einem Fernseh-Interview. Den Ruf eines Taktikers mit moralischem Antrieb erwarb Voscherau im Mai 1985, als er vom Posten des Fraktionsvorsitzenden zurücktreten wollte, weil sich der Senat seiner Ansicht nach zu wenig bemühte, einen damaligen Skandal um die Hamburger Stadtreinigung aufzudecken.
"Bahnbrechende Zukunftsleistungen für die Stadt"
In Voscheraus Amtszeit fiel auch die deutsche Wiedervereinigung. Der Sozialdemokrat erkannte schnell, welche Chance, aber auch welche Herausforderung der Fall der Mauer für Hamburg bedeutete. "Ich bin sehr stolz auf meine - wie ich finde - bahnbrechenden Zukunftsleistungen für die Stadt", sagte Voscherau später. Das seien vor allem 50.000 neue Wohnungen und große Infrastruktur-Projekte wie der Flughafen-Ausbau, die erste Elbvertiefung sowie die Hafenerweiterung gewesen.
"Wiederherstellung des Rechtsfriedens" mit Hafenstraßen-Vertrag
Von 1991 an regierte Voscherau die Hansestadt mit einer absoluten Mehrheit. Das große innenpolitische Thema seiner zweiten Amtszeit war die Hafenstraße. Anfangs strebte der Sozialdemokrat noch die Räumung und den Abriss der besetzten Häuser an, änderte aber 1994 seine Meinung. Später nannte er es "die Probe aufs Exempel": "Das Ziel, um das es von Anfang an geht, ist nicht Abriss als Selbstzweck, sondern die Wiederherstellung des Rechtsfriedens und gewaltloser, gut nachbarlicher Verhältnisse." Und die kamen durch den Vertrag mit der Hafenstraße dann tatsächlich.
Henning Voscherau: Der "Vater der Hafencity"
Im Mai 1997, ein halbes Jahr vor dem Ende seiner Amtszeit, sprach Voscherau zum ersten Mal öffentlich über seine Vision für eine Hafencity: "Was die Innenstadt als Herz und Aushängeschild Hamburgs angeht, so habe ich die Vision eines revitalisierten Stadtraums. Die Erweiterung der Innenstadt um den innerstädtischen Hafenrand eröffnet die einzigartige Möglichkeit, diese Vision Realität werden zu lassen." Als "Vater der Hafencity" erhielt Voscherau 2011 die Bürgermeister-Stolten-Medaille, die höchste Auszeichnung der Stadt.
Grünen-Koalition? "Ich mache nicht jeden Quatsch mit"
In den 1990er-Jahren wurden die Grünen (GAL) in Hamburg immer stärker, für Voscherau jedoch blieben sie ein rotes Tuch. "Ich mache nicht jeden Quatsch mit", sagte er zu einer möglichen Koalition mit den Grünen. Noch Jahre später warf er den Grünen "Fehlleistungen" und "Verfilzung" vor. 1997 gewann die SPD die Bürgerschaftswahl, musste mit 36,2 Prozent der Stimmen aber das schlechteste Ergebnis der Sozialdemokraten in der Hansestadt nach Kriegsende hinnehmen. Voscherau, der für sich zuvor eine "Schmerzgrenze" bei 38 Prozent zog, weigerte sich, mit der GAL zusammen zu regieren und erklärte noch am Wahlabend, nicht mehr für das Amt des Ersten Bürgermeisters zu kandidieren.
2007 wurde er fast noch einmal als Nothelfer Spitzenkandidat der Sozialdemokraten, zog dann aber überraschend und kurzfristig zurück. Olaf Scholz (SPD) hielt er für einen würdigen Nachfolger: "Ein sehr disziplinierter, loyaler, geradliniger Mensch, der große Fähigkeiten hat und von dem man noch viel Positives hören wird."
Ausflug zu Gazprom
Für mediales Aufsehen sorgte Voscherau 2012, als er zum Aufsichtsratsvorsitzenden des Joint Venture South Stream Transport AG gewählt wurde. Damit engagierte er sich als zweiter deutscher SPD-Politiker nach Gerhard Schröder beim russischen Energiekonzern Gazprom. Voscherau sollte die umstrittene Gaspipeline von Russland durch das Schwarze Meer nach Europa voranbringen, das Projekt wurde jedoch 2014 eingestellt.
Der "richtige Mann" für die Mindestlohnkommission
2014 besetzte Voscherau das Amt des Vorsitzenden in der von der Bundesregierung berufenen Mindestlohnkommission. Sowohl der Deutsche Gewerkschaftsbund als auch die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeber sahen damals in dem Hanseaten den "richtigen Mann" für diese Aufgabe. Die Kommission entscheidet, in welchen Schritten der 2015 neu eingeführte gesetzliche Mindestlohn von damals 8,50 Euro weiter angehoben wird.
Bewegender Abschied im Thalia Theater
Anfang April 2015 musste Voscherau sein Amt jedoch aus gesundheitlichen Gründen mit sofortiger Wirkung wieder aufgeben. Er unterzog sich im UKE einer Operation am Kopf und kehrte erst ein halbes Jahr später zurück in die Öffentlichkeit. In der Nacht zum 24. August 2016 starb er im Kreis seiner Familie an den Folgen eines Gehirntumors. Er hatte erst am 13. August seinen 75. Geburtstag gefeiert.
Familie und Weggefährten nahmen bei einer Trauerfeier im Thalia Theater Abschied von dem ur-hanseatischen Politiker. Dort, wo der Vater als Schauspieler engagiert war, hatten die Voscherau-Brüder viele Kindheitstage verbracht. Beigesetzt wurde Henning Voscherau auf dem Friedhof Ohlsdorf. Seit November 2019 erinnert der Henning-Voscherau-Platz in der Hafencitiy an Hamburgs langjährigen Ersten Bürgermeister.