14. Juni 1998: Entführungsopfer Bodo Janssen wird befreit
Acht Tage lang wird das Entführungsopfer Bodo Janssen 1998 gefoltert. Am 14. Juni 1998 befreit ein SEK den Unternehmersohn. Ein Aufenthalt im Kloster hilft ihm, sein Trauma zu überwinden. Mittlerweile habe er "keine Angst mehr vor der Angst."
Bodo Janssen lebt Mitte der 90er-Jahre ein unbeschwertes Leben in Hamburg: Der Millionärssohn aus Emden studiert BWL an der Uni, jobbt nebenbei als Model. Doch am Abend des 6. Juni 1998 nimmt das Dasein des 24-Jährigen eine brutale Wendung. Sein Bekannter Volker S. lockt ihn unter einem Vorwand in eine Wohnung in den Grindelhochhäusern: "Ich erinnere mich noch, dass ich mich gewundert habe, als ich in die Wohnung hereingekommen bin: Das Licht war aus." Auch im Flur und im Wohnraum: Dunkelheit. "Die Fenster waren abgehängt und dann sah ich nur aus dem Augenwinkel einen Schatten auf mich zukommen", beschreibt er heute seine Eindrücke von damals. Bodo Janssen wird überwältigt, gefesselt und auf dem Boden fixiert. "Vor dem inneren Auge läuft es tatsächlich so ab wie in einem Film", sagt er rückblickend. "In dem Moment ist gar kein Gedanke möglich, das geschieht einfach."
"Hier läuft etwas in eine völlig falsche Richtung"
Anfangs glaubt Bodo Janssen noch, das Ganze sei ein Scherz oder auch ein Missverständnis. Als er durch den Drahtzieher der Entführung vernommen worden sei und der zunächst davon sprach, er habe sich in Sachen eingemischt, die ihn nichts angingen, sei Janssen erstmal halbwegs erleichtert gewesen, weil er sich keiner Einmischung bewusst war. "Das klärt sich auf", so sein Gefühl. "Alles wird gut." Doch nichts wir gut: Am zweiten Tag wird Bodo Janssen klar, worum es geht. Er muss sich hinknien. Die Entführer ziehen ihm einen Jutesack über den Kopf, halten ihm eine Pistole an den Hinterkopf und drücken ab. Es ist keine Kugel im Lauf. "Mit der ersten Scheinhinrichtung hatte ich das Gefühl, hier läuft etwas in eine völlig falsche Richtung," erinnert er sich.
"Du darfst nicht sterben, du musst gleich zur Vorlesung"
An der Entführung sind neben Volker S. auch Fadil C. aus dem ehemaligen Jugoslawien und Milisav S., ein 24-jähriger Mann aus Montenegro beteiligt. Kopf der Bande ist der Bosnier Kresimir G. Das Perfide an dem Plan: Volker S. gibt zunächst vor, sein Mitgefangener zu sein, er liegt gefesselt neben Janssen - wie ein Feind in dessen Bett. Bodo Janssen gehen damals irrationale Gedanken durch den Kopf wie: "Mist, du darfst jetzt nicht sterben, du musst gleich zur Vorlesung." Sein Erregungszustand ist hoch, er spürt seinen Puls im Hals schlagen und hört ihn bis unter die Schädeldecke.
Bodo Janssen erlebt "Ohnmacht, Machtlosigkeit, Todesangst"
Bodo Janssen befindet sich in einer scheinbar ausweglosen Situation, er erlebt den "absoluten" Kontrollverlust, "einen Moment voller Gegenwärtigkeit". Gefangen in einem Gefühl, das nicht kontrollierbar sei - wie Situation. Er beschreibt es als "Ohnmacht, Machtlosigkeit, Todesangst."
Entführer fordern zehn Millionen Mark von den Eltern
Auch die Angehörigen von Bodo Janssen befinden sich in einer emotionalen Ausnahmesituation. Seine Freundin erhält am Morgen nach der Entführung einen Anruf von einem ihr unbekannten Mann mit dem Hinweis, sie möge in den Briefkasten schauen. Sie findet einen Erpresserbrief mit Lösegeldforderung: "Zehn Millionen von den Eltern - oder Bodo muss sterben". Doch Werner und Gretchen Janssen haben weder so viel Geld flüssig, noch können sie die volle Summe auftreiben. Die Janssens informieren die Polizei. Die Beamten macht stutzig, dass auch Bodo Janssens Bekannter und Kommilitone Volker S. unauffindbar ist. Eine Sonderkommission, die Soko 982, wird zur Aufklärung eingesetzt.
Die Entführer verhandeln allerdings direkt telefonisch mit Vater Werner Janssen. Der Bauunternehmer einigt sich mit den Erpressern schließlich auf drei Millionen Mark Lösegeld, das er nach Kroatien bringen soll. Da der Flughafen in Split gesperrt ist, kann Werner Janssen mit seiner Privatmaschine dort nicht landen. Auch eine zweite Geldübergabe in Zagreb scheitert wegen kroatischer Devisenbestimmungen.
Mehrere Scheinhinrichtungen und den Tod immer vor Augen
Unterdessen durchlebt Bodo Janssen psychische wie physische Folter, den Tod dabei immer vor Augen. Beim Gang zur Toilette ist stets eine scharfe Waffe auf ihn gerichtet. Der 24-Jährige durchlebt mehrere Scheinhinrichtungen. Zum Schluss bieten ihm die Entführer Tabletten an: "Wir wollen es dir einfach machen, du nimmst die jetzt, dann schläfst du ein. Den Rest machen wir dann in der Badewanne", so Bodo Janssen im Radiosender "B2" im Jahr 2019 rückblickend über sein Martyrium. Sein Körper und Geist befinden sich damals im existenziellen Schock.
Werner Janssen übergibt Lösegeld in Klagenfurt
Bodo Janssen und auch seine Eltern sind in einem permanentern Zustand der Angst. Nach einer Zeit bangen Wartens melden sich die Entführer erneut. Sie geben den nächsten Ort für die Geldübergabe durch: das Gasthaus "Deutscher Peter" in Klagenfurt. Werner Janssen macht sich im Auto auf den Weg nach Österreich. Und diesmal gelingt die Übergabe tatsächlich. Zwei Bosnier nehmen das Geld entgegen. Die Polizei vor Ort übernimmt die Observierung.
Spezialeinsatzkommando befreit Bodo Janssen
Als Bodo Janssen nach der Einnahme der Tabletten aufwacht, sieht er seine Peiniger unmaskiert. Kein gutes Zeichen, denkt er sich. Aber wenig später habe es bereits an der Tür geknallt, erläutert Janssen später im Gespräch mit dem Radiosender "B2". Um 11.30 Uhr stürmt das Spezialeinsatzkommando (SEK) die Wohnung in der Hallerstraße, überwältigt die Täter und befreit Bodo Janssen. Milisav S. hatte die Beamten ungewollt auf die Spur gebracht - beschattet beim Brötchenholen.
Nach der Befreiung von Bodo Janssen überführen die österreichischen Behörden die zwei Bosnier im Intercity von Klagenfurt nach Wien und stellen 2,5 Millionen Mark sicher. Mit den restlichen 500.000 Mark ist Kresimir G. untergetaucht.
Langjährige Haftstrafen für die Entführer
Am 8. Dezember 1998 beginnt der Prozess wegen erpresserischen Menschenraubs gegen Fadil C., Milislav S. sowie Janssens Kommilitonen Volker S.. Alle drei gestehen die Tat - und entschuldigen sich bei Bodo Janssen und seiner Familie. Doch der durchlebt bei seinen Aussagen vor Gericht noch einmal die Grausamkeiten seiner Peiniger: Milisav S. habe ihm erzählt, wie er seine Leiche beseitigen würde: den Körper "in der Badewanne ausbluten lassen und dann zerteilen. Es war einfach schrecklich", wird Bodo Janssen 1999 im "Hamburger Abendblatt" zitiert.
Das Urteil fällt Anfang Januar 1999, Volker S. und Milisav S. werden zu jeweils acht Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, Fadil C. muss knapp sechs Jahre in Haft. Nach mehr als zwei Jahren auf der Flucht wird auch Kresimir G., genannt der "Schakal", gefasst und verhaftet. Bei einer Verkehrskontrolle in Zagreb im Oktober 2000 stolpern die Behörden über seinen gefälschten Führerschein. Er muss sich in Kroatien vor Gericht verantworten.
Aufarbeitung der Entführung beginnt sehr viel später
Kurz nach seiner Befreiung sucht Bodo Janssen Hilfe: "Zwei Sitzungen der EMDR-Therapie (Anm. d.Red.: Eye Movement Desensitization and Reprocessing, deutsch: Desensibilisierung und Verarbeitung durch Augenbewegungen) sind an mir praktiziert worden." Anschließend habe er keine Unterstützung oder Begleitung gewollt. "Die Hilfe habe ich versucht, in Alkohol, Drogen und Party zu finden. Also in der Flucht." Über zehn Jahre läuft Bodo Janssen vor der Situation weg, anstatt sie zu verarbeiten. "Es war dann das Umfeld des Klosters, dass mir so viel Geborgenheit und Sicherheit geschenkt hat, dass ich dazu bereit war, einen anderen Weg zu gehen." In der Stille des Klosters kommt er zu sich: "Ich bin ja vor der Stille geflüchtet, aus Angst vor den Gedanken, die mir vielleicht bewusst werden können."
Bodo Janssen beginnt, die Entführung aufzuarbeiten und für sich zu nutzen. Es sei ein Zitat von Hildegard von Bingen gewesen, dass er vom Benediktiner-Pater Anselm Grün mit auf den Weg bekommen habe: "Die Kunst der Menschwerdung besteht daraus, aus Wunden Perlen zu machen." Bodo Janssen betrachtet die größten und tiefsten Wunden seines Lebens, um schließlich die größten Perlen zu bergen. Es sei eine sehr rationale Betrachtungsweise gewesen, die ihm dabei geholfen habe, die Hemmschwelle zu senken, sich mit dieser Phase seines Lebens zu befassen.
"Wachse oder zerbreche ich an einer Krise ..."
Bodo Janssen findet einen Weg für sich, mit der schmerzhaften Erfahrung umzugehen: "Einen Sinn in einer Krise zu finden, macht es vielleicht ein Stückchen leichter, dem Verursacher des Leidens zu vergeben." Also auch seinen Entführern. "Das Abschälen der Hüllen, die sich im Laufe der Zeit darübergelegt haben, haben mich dann wieder in diesen Moment geführt." Und das sei der erste Schritt gewesen, beschreibt Bodo Janssen seinen Heilungsprozess. Und der zweite? "Wofür war das gut, was ich erlebt habe? Was kann ich durch das Erlebte für mich und mein Lebensglück erkennen?" Er stellt sich der Frage, "ob ich an einer Krise wachse oder an einer Krise zerbreche."
"Heute habe ich keine Angst mehr vor der Angst"
Bodo Janssen kann heute besser durch Krisen hindurchgehen. Während seiner Reflexionen hat er Bilder aus der Entführung heraus entwickelt, die ihm dabei helfen, Krisen anzunehmen - und nicht vor ihnen zu fliehen: "Früher hat mich die Angst beherrscht, heute habe ich keine Angst mehr vor der Angst, sondern nutze diese Angst, um gut mit einer Situation umzugehen." Und: das Annehmen. "Bei der letzten Scheinhinrichtung, in dem Moment, in dem ich den Tod für mich wirklich angenommen habe, bereit war, das Leben loszulassen, entstand ein Gefühl von innerer Freiheit. Besiege den Tod, bevor er dich besiegt!"
"Lieber verstehen als bewerten, das macht frei"
Innere Freiheit als Unabhängigkeit von Dingen und äußeren Umständen, das sei sein Gewinn. Und auch die Distanz zu eigenen Gedanken: "Lieber verstehen als bewerten, das macht frei."