Gerd Schneider: "Wir haben Wiedervereinigung gemacht"
Am 2. Oktober 1990 sendeten NDR 1 Welle Nord und Radio Mecklenburg-Vorpommern das erste deutsch-deutsche Radioprogramm unter dem Titel "Radio Schlutup". Am 9. November 2019 gab es wieder eine Livesendung unter dem gleichen Namen. Gerd Schneider, der ehemalige Hörfunkchef der NDR 1 Welle Nord und spätere Direktor des NDR Landesfunkhauses Schwerin, erinnert sich im Interview mit an die geschichtsträchtige Sendung von 1990.
Welche Bedeutung hatte nach ihrer Meinung das Projekt "Radio Schlutup"?
Gerd Schneider: "Radio Schlutup" hatte einen großen symbolischen Charakter und - so glaube ich - war einmalig in der Rundfunkgeschichte. Wir haben praktisch Wiedervereinigung gemacht. Dieses unbefangene Herangehen, das war es. Nicht erst Regelwerke studieren, keine Bedenkenträgerschaft. Ich glaube, diese Zeit wünschen sich heute viele zurück, wenn es an Problemlösungen zwischen Ost und West geht.
Welche Rolle spielte die Welle Nord und das Landesfunkhaus in Kiel?
Schneider: Das hatte ja alles seinen Vorlauf. Warum gerade die Initiative aus Kiel? Bei der NDR 1 Welle Nord war Mecklenburg schon immer Gegenstand des Programms. Das verbindende Element war die Plattdeutsche Sprache. Die NDR Redaktion dafür war in Kiel. Premieren der Niederdeutschen Bühne in Schwerin waren ebenso Thema wie Stundensendungen von den Weihnachtsmärkten in Schwerin oder Rostock. Und es gab einen plattdeutschen Autor, der Mecklenburger Platt in Hör mal 'n beten to präsentierte. Der kam aus Rostock und hat in Lübeck produziert. Leider hat sich hinterher herausgestellt, dass er inoffizieller Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit war.
Wie fremd waren sich eigentlich die Kolleginnen und Kollegen aus Ost und West?
Schneider: Dass "Radio Schlutup" über Nacht aus dem Boden gestampft wurde, auf dem Gelände des Grenzübergangs, hatte natürlich auch seinen Vorlauf. Mit der Maueröffnung begannen die regelmäßigen Kontakte zu den Studios in Schwerin, Rostock und Neubrandenburg. Gemeinsame Redaktionsabsprachen, kleine technische Hilfeleistungen und so weiter. Wir kannten uns gegenseitig, journalistische Profis auf beiden Seiten - und wir hatten Vertrauen zueinander.
Und die Menschen in Mecklenburg-Vorpommern?
Schneider: Ich erinnere mich noch gut an die Tage um den 9. November. Es kamen Tausende. Der Innensenator von Lübeck rief mich an. Die Stadt sei dicht, geradezu überflutet von Trabbis, kein vor und kein zurück, es war kalt. "Wir müssen die Menschen irgendwie unterbringen, die haben ja kein Geld, um ein Hotel zu bezahlen", sagte er. Wir fuhren spontan mit dem Ü-Wagen nach Lübeck auf den Platz vor dem Rathaus und riefen in einer Live-Sendung dazu auf, Übernachtungsmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen. Es waren wunderbare Momente, wie sich die Menschen um den Hals gefallen sind, eine Familienzusammenführung der besonderen Art.
Gibt es eine besondere persönliche Erinnerung an diesen Tag?
Schneider: Ich stand am Abend auf dem Dach einer der inzwischen geräumten Abfertigungsbaracken. Das Bild der Ü-Wagen, Container, Reporterfahrzeuge auf dem Gelände des DDR-Überwachungsapparates werde ich wohl nie vergessen. Moderatoren, Reporter, Techniker aus Ost und West machten ein gemeinsames Programm in einem freien Rundfunk. Schlutup war ein Signal zum Aufbruch. Und der erfolgte auch. Und ich bin dankbar, dass ich dazu beitragen durfte.
Das Interview führte Karin Schreiber.