Genschers Prag-Rede: Krankenschwester aus Peine erlebt Wende
1989 betreut die Krankenschwester Annemagret John aus dem niedersächsischen Peine in der Prager Botschaft DDR-Flüchtlinge. Die Rede von Außenminister Genscher am 30. September erlebt sie hautnah mit.
Ende September 1989 retten sich Tausende DDR-Bürger auf das Botschaftsgelände der Bundesrepublik in Prag. Als eine von zwei westdeutschen Krankenschwestern kümmert sich Annemagret John aus Peine dort um die Flüchtlinge. "Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise möglich geworden ist!" Als Hans-Dietrich Genscher, damals Bundesaußenminister, diesen historischen Satz am 30. September 1989 um 18.58 Uhr auf dem Balkon der Botschaft ruft, steht John mit einer Gänsehaut direkt hinter ihm. "Die Menschen fielen sich in die Arme, schrien und jubelten, das war grenzenlose Freude", erinnert sich John im Gespräch mit dem NDR 2014.
Hans-Dietrich Genscher erlöst die DDR-Bürger
"Als Hans-Dietrich Genscher durch das Tor ging, haben die Menschen ihn sofort erkannt, fielen sich da schon in die Arme, irgendwie war allen in diesem Moment völlig klar: Jetzt gibt es eine Lösung!" Etwa 5.000 Menschen hielten sich an diesem Tag auf dem völlig überfüllten Botschaftsgelände auf. "Wir hatten nur ganz wenige Duschen und Toiletten. Als wir zwei Tage vorher auf dem Gelände ankamen, waren 2.500 Flüchtlinge dort. Stündlich kamen immer mehr und kletterten über den hinteren Zaun. Sie reichten sich erst die Kinder rüber, dann ihr Gepäck. Sie trauten sich nicht durch den Eingang zu gehen, denn der wurde von der tschechischen Polizei bewacht", erinnert sich die damals 41-Jährige.
Menschen harrten tagelang in der Prager Botschaft aus
Gewohnt haben die Ausreisewilligen in bereitgestellten Zelten mit dreistöckigen Betten oder in eigenen Campingzelten. "Wer keinen Platz mehr hatte, musste tagelang auf den breiten Treppenstufen des Botschaftsgebäudes ausharren. Sie haben quasi dort gewohnt, jeder hatte eine Stufe. Mehr Platz gab es nicht. Zum Glück war es sonnig und trocken. Wir haben dann die Versorgung koordiniert", erklärt die Krankenschwester. "Der Transporter fuhr täglich, um Windeln für Kleinkinder, Pflegemittel, Handtücher und Arzneimittel zu besorgen. Viele hatten sich erkältet oder auch Schürfwunden, weil sie über den Zaun geklettert waren."
Geordnetes Chaos auf dem Botschaftsgelände
Auch eine Feldküche war aufgebaut. Es gab Gulasch oder Nudeln und lange Schlangen an der Essensausgabe. Alle waren geduldig. Es sei ein geordnetes Chaos gewesen, beschreibt Annemagret John. "Es waren junge Menschen, viele Familien mit Kindern haben darauf gehofft, durch die Botschaft ausreisen zu können. Um sich die Zeit zu vertreiben, hatten viele Brettspiele dabei. Und bei allen herrschte die Hoffnung: Es gibt ein Happy End. Alles wird gut!"
Nach Genschers erlösenden Worten standen Busse bereit. "Trotzdem hatten die Menschen große Angst, wollten nicht ohne Begleitung das Botschaftsgelände verlassen und zu den Bussen gehen. Da sind dann Botschaftsmitarbeiter mitgegangen. Auch eine schwangere Frau kurz vor der Entbindung bestand darauf. Sie wäre sonst nicht ins Krankenhaus gefahren", sagt John. Unterstützung gab es auch von den Flüchtlingen. "Ich habe stets gefragt, wer sich medizinisch auskennt. Es waren viele Ärzte und Krankenschwestern aus der DDR dabei, die uns geholfen haben."
Annegret John lehnt Vorschlag für das Bundesverdienstkreuz ab
Eine Woche lang hat Annemagret John in der Botschaft gearbeitet. Auch viele Jahre danach strahlen immer noch ihre Augen, wenn sie davon erzählt und in ihren Aufzeichnungen blättert, fast wie ein Tagebuch mit Eindrücken und den Bestell-Listen mit Windeln und Medikamenten. Viele Zeitungsausschnitte hat sie aus den dramatischen Tagen des Mauerfalls aufgehoben. Für sie war es ein einmaliger Einsatz. Weil die Hilfe für sie selbstverständlich war, hat sie den Vorschlag für das Bundesverdienstkreuz abgelehnt. "Das war mein Beitrag zur Wiedervereinigung, für die Freiheit. Ich würde es immer wieder tun."