Die Irrfahrt der "St. Louis": Flüchtlinge, die keiner wollte
Am 13. Mai 1939 legt der Hapag-Dampfer "St. Louis" aus Hamburg nach Kuba ab. An Bord sind gut 900 jüdische Flüchtlinge, die vor den Nazis fliehen. Doch Kuba verweigert die Einreise, ein verzweifelter Kampf um das Überleben beginnt.
Am Abend des 13. Mai 1939 macht am Schuppen 76 der Hapag-Dampfer "St. Louis" die Leinen los. Mehr als 900 jüdische Männer, Frauen und Kinder gehen auf eine lange Reise, die pro Person 500 Reichsmark gekostet hat. Sie wollen vor den Nationalsozialisten fliehen und ihre Heimat verlassen. Ihr Ziel ist Kuba, wo sie in Sicherheit sein sollen. Von dort aus wollen die meisten weiter in die USA reisen. Doch es kommt anders als geplant. Die Reise, die zunächst wie eine letzte Hoffnung erscheint, nimmt einen dramatischen Verlauf.
Kapitän Gustav Schröder gilt als guter Nautiker
Gustav Schröder ist der Kapitän der "St. Louis". 1902 ist er als 17-Jähriger mutterseelenallein mit der Eisenbahn von Hadersleben (Nordschleswig) nach Hamburg gereist, um zur See zu fahren. Das gelingt ihm auch. Er wird ausgebildet und ist auf mehreren Schiffen unterwegs. Schröder gilt als ein charmanter Gastgeber, ein guter Nautiker - und er ist Mitglied der NSDAP. Seine Mitgliedskarte ist am 1. Dezember 1933 ausgestellt worden. In seinen Händen liegt nun das Schicksal der jüdischen Passagiere, die eine unsichere Zukunft vor sich haben.
Am 16. Mai notiert Kapitän Schröder: "Schönes Wetter, reine Seeluft, gutes Essen, eine aufmerksame Bedienung erzeugt die auf langen Seereisen übliche sorglose Stimmung. Selbst kummervolle Eindrücke des Lebens an Land verblassen schnell auf See. Ein gastliches Schiff mitten auf dem weiten Ozean ist eine andere Welt. So ist es auch hier: Zuversicht und Hoffnung blühen."
Hoffnung und Verzweiflung in Havanna
Am 27. Mai 1939 erreicht die "St. Louis" morgens um 4 Uhr Havanna. Sie wirft auf Reede vor dem Hafen Anker. Barkassen bringen Behördenvertreter und Polizei an Bord. Die Pässe des Ausreisewilligen werden kontrolliert. Nur 26 Personen dürfen das Schiff verlassen, deren Auswahl bleibt rätselhaft.
Am Nachmittag erlässt der kubanische Staatspräsident die Weisung, die "St. Louis" habe den Hafen wieder zu verlassen. Kapitän Schröder bittet das Deutsche Außenamt über seine Reederei, um eine Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung - zwei Tage Frist zum Verlassen des Hafens werden darauf eingeräumt.
"So eine traurige Situation"
Gisela Feldmann ist damals 15 Jahre alt. Sie erinnert sich, wie es war, nicht von Bord gehen zu dürfen: "Was das Traurigste war: So viele Familien hatten schon Väter oder Familien auf Kuba. Und die sind auf Booten um die 'St. Louis' herumgefahren und haben Namen gerufen. Und dann haben wir die Familien gesucht, sodass sie miteinander sprechen konnten. Wir sind so fern gewesen und so nah." Ein Mann habe zu seiner Frau gerufen: "Wirf' mein Kind runter, sodass ich wenigstens mein Kind haben werde." Die Frau habe das Kind natürlich nicht heruntergeworfen. "Aber so eine traurige Situation: Die Väter haben ihre Kinder und Frauen gesehen und konnten nicht zusammenkommen."
"Wir wussten: Wir kommen in ein Lager"
Ohne sicheren Hafen in Nord- und Südamerika muss die "St. Louis" nach Europa zurückkehren. "Jeder hat Angst, dass wir nach Deutschland zurückfahren. Und wir wussten, meine Eltern wussten, die anderen wussten, dass, wenn wir nach Deutschland zurückkommen, wir in ein Lager kommen würden", erinnert sich Sol Messenger.
Kapitän versucht weiter, die Passagiere in Sicherheit zu bringen
In dieser schwierigen Zeit zeigt Schröder außergewöhnlichen Mut und Humanität. Trotz der Anweisungen der nazideutschen Regierung, die Rückkehr nach Deutschland zu forcieren, setzt er alles daran, seine Passagiere in Sicherheit zu bringen. Er verzögert die Reise und sucht unermüdlich nach sicheren Häfen. Eigenmächtig steuert Schröder die "St. Louis" in Richtung Florida. Dort will er die Flüchtlinge mit Rettungsbooten an Land setzen. Was er tut, ist durch keinen Auftrag gedeckt. Der Plan endet drei Meilen vor der Küste: Das US Coast Guard-Boot "CG 244" läuft auf die "St. Louis" zu, als diese in US-amerikanische Hoheitsgewässer einläuft. Mit Morsezeichen wird das Hapag-Schiff aufgefordert, sofort umzudrehen. Als ein weiteres Boot und Marine-Flugzeuge hinzukommen, bleibt Kapitän Schröder nichts anderes übrig, als wieder auf das offene Meer abzudrehen.
Keine Regierung fühlt sich verantwortlich
Von New York aus versucht das Jewish Joint Distribution Committee - eine jüdische Hilfsorganisation - Länder zu finden, die die Flüchtlinge der "St. Louis" doch noch aufnehmen. Aber keine Regierung fühlt sich verantwortlich - auch Kanada macht die Grenzen dicht. Es scheint, als habe die Welt den Kapitän und seine mehr als 900 Passagiere allein gelassen.
Aus Hamburg kommt ein Telegramm mit der Aufforderung, so schnell wie möglich zurückzukehren: "Proceed to Hamburg, full speed". An Bord ist damals auch Phil Freund: "Die Passagiere waren am Boden zerstört. Sie wussten, sie würden getötet. Wenn wir in Hamburg, Bremerhaven oder sonst wo an Land gegangen wären, hätten sie uns verhaftet und in ein Konzentrationslager gebracht. Das wäre unser Ende gewesen."
Erlösende Nachricht: Sicherer Hafen - Antwerpen
Doch Schröders umsichtiges Verhalten sowie seine geschickte Verzögerungstaktik haben entscheidende Verhandlungen ermöglicht. Kurze Zeit später kommt die erlösende Nachricht: Das jüdische Hilfskomitee hat für die "St. Louis" einen sicheren Hafen gefunden - Antwerpen. Dort kommt das Schiff am 17. Juni 1939 an. Noch auf dem Schiff werden die Flüchtlinge auf ihre neuen Bestimmungsländer verteilt, die sie in den kommenden Tagen erreichen sollen. Die Niederländer holen die ihnen zugeteilten 181 Menschen mit dem Schiff "Jan van Herckel" aus Antwerpen ab. Das französische und englische Kontingent wird vom Hapag-Frachter "Rhakotis" abgeholt. Die 227 Flüchtlinge, die in Frankreich bleiben, werden in Boulogne-sur-Mer ausgeschifft. Vom englischen Hafen Southampton aus werden 284 Flüchtlinge per Sonderzug nach London gebracht. Ein schwer bewachter Sonderzug bringt das belgische Flüchtlings-Kontingent mit 214 Flüchtlingen nach Brüssel.
Das Vermächtnis der "St. Louis"
Mehr als zwei Drittel der Passagiere der "St. Louis" überleben den Zweiten Weltkrieg. Die Geschichte des Schiffs" ist ein berührendes und eindringliches Zeugnis menschlicher Hoffnung und Verzweiflung. Kapitän Schröder erhält 1957 das Bundesverdienstkreuz für seinen Einsatz. Am 10. Januar 1959 stirbt Schröder im Alter von 73 Jahren in Hamburg. Er wird auf dem Nienstedtener Friedhof beigesetzt. Heute erinnern verschiedene Gedenkstätten an seine Tat. Auf Beschluss des Hamburger Senats wird 1991 im Norden Hamburgs eine Straße in Kapitän-Schröder-Weg umbenannt.
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