Botschaft aus Prag 1989: Rostocker schildert Abenteuer
Tausende DDR-Bürger flüchten im Sommer 1989 in westdeutschen Botschaften. Der Rostocker Lothar Kosz springt über den Zaun der Prager Botschaft. 25 Jahre später hält er einen Brief in Händen, den er damals geschrieben hat.
"Die erste Nacht hinter mir, ein Alptraum! Die Leute in den Zelten mit Doppelbetten haben die Paläste mit Himmelbetten darin. Andere schlafen im Freien auf Pritschen, die sie gegen Regen abgedeckt haben oder auf Pappe." Als Lothar Kosz diese Zeilen mit krakeliger Schrift schreibt, hockt er auf einem nur 60 Zentimeter breiten Karteikartenschrank. Es ist sein Schreib- und Schlafplatz in der bundesdeutschen Botschaft in Prag, wie er 2014 im Rahmen des NDR Projekts "Atlas des Aufbruchs" erzählt.
Das Abenteuer seines Lebens
Mit einem beherzten Sprung über den Botschaftszaun hatte sich Kosz am 26. September 1989 in das größte Abenteuer seines Lebens gestürzt, wie er sagt. Doch was ihn hinter dem Zaun erwartet, darauf ist der Rostocker nicht gefasst: Bei seiner Ankunft drängen sich bereits 250 DDR-Bürger auf den Botschaftsfluren. Zwei Tage später sind es bereits zehn Mal so viele. "Und der Zustrom will nicht enden“, schreibt er aus der Botschaft.
"Hier leben derzeit Säuglinge, Hochschwangere, Familien mit bis zu vier Kindern. Viele Vorbestrafte und Asis, jugendliche Dummköpfe, die das hier als fröhliches Abenteuer betrachten; Skins, die mit halbwegs pink-normalen Frisuren ankamen, sich hier, wo sie Morgenluft witterten, gegenseitig die Haare abrasierten, bis nur noch ein Hakenkreuz übrig blieb."
"Stasischläger" hinterm Botschaftszaun
Ständiges Schlangestehen wie in der DDR, "ein zum Wahnsinn treibendes Kindergebrüll" plus die Angst vor der Zukunft und um die Zurückgelassenen - all das zerrt an den Nerven der Prager Botschaftsflüchtlinge, die unerwartet rüde miteinander umgehen, wie Lothar Kosz beschreibt. Zusätzlich belastend: die allgemeine Angst vor Stasischlägern, die in und vor der Botschaft lauern sollen. Auch Lothar Kosz wird misstrauisch beobachtet, schließlich kritzelt er ständig etwas auf Papier: "Briefe zu schreiben, machte einen verdächtig. Man hätte ja ein Spitzel sein können", erklärt er. Aus diesem Grunde hat Kosz auch kaum in der Prager Botschaft fotografiert: Nur eine Handvoll verwackelter Schwarz-Weiß-Fotos zeigen den beengten Alltag in den Botschaftsfluren und überfüllten Zimmern.
"Einen Scheißstaat verlassen, die Heimat verloren"
Dabei ist Fotografieren Kosz' Leidenschaft und einer der Gründe, warum der Hobbyfotograf 1989 raus will aus der DDR: "Ständig sind meine Akt-Aufnahmen von den Rostocker Kulturgenossen zensiert worden, weil meine Fotos angeblich nicht den sozialistischen Realismus abbildeten. Ausstellungen des Fotoklubs 'Konkret' wurden deshalb sogar abgesagt", empört sich Kosz noch 2014. "Verlassen habe ich einen Scheißstaat. Verloren aber habe ich meine Heimat. Ach, ich kann es nicht ausdrücken. Es tut alles so weh", schreibt Lothar in Prag. Adressiert ist sein Brief an seinen Fotofreund Siegfried Wittenburg, den Leiter des Warnemünder Fotoklubs "Konkret". Er hat Lothars Brief aus Prag 25 Jahre lang aufbewahrt.
30. September 1989: Geplante Ausweisung am Geburtstag
Geblieben aus jenen Chaostagen ist auch noch eine Karteikarte aus Lothars Stasiakte, die er erst Jahre später gefunden hat. Darauf ordentlich vermerkt: sein Name, das Datum seines dritten Ausreiseantrages und das Stichwort "Zustimmung zur Übersiedlung". "Danach sollte ich zum 30. September 1989 offiziell ausgewiesen werden aus der DDR." Für Lothar Kosz der Witz der Geschichte: Denn an genau jenem Tag versprach der damalige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher den rund 5.000 Prager Botschaftsflüchtlingen offiziell die Freiheit. Für Lothar der Tag seines Lebens, ist doch der 30. September auch sein Geburtstag.
Brief aus der Prager Botschaft - unvollendet
Seinen Brief aus der Prager Botschaft hat Lothar Kosz erst kurz vor dem Mauerfall abgeschickt. Aus Bremen, seiner neuen Heimat im November 1989. Sein schriftliches Fazit: "Da sind erstaunlich viele Dinge aus der Zeit vor meiner Stunde Null, die mein Denken und Empfinden in der neuen Zeitrechnung nachhaltig bestimmen. Ja, meine 'Hinterlassenschaft' ist das Fragment eines Briefes, der, hätte ich noch die Zeit gefunden, sehr lang geworden wäre. Da bin ich 36 Jahre alt, habe nichts erreicht, wie Mama tränenerstickt sagt - und ich fühle mich sauwohl dabei. Fühlt Euch ganz lieb umarmt! Lothar".