Abzug der GUS-Truppen: Ein Abschied von Freunden und Besatzern
Für die einen gingen sie als Freunde, für die anderen als Besatzer: Am 28. April 1993 wurden die Truppen der früheren Sowjetunion aus Schwerin verabschiedet - neben Neustrelitz einst der größte sowjetische Truppenstandort im Nordosten.
Es ist ein Abschied mit Pauken und Trompeten, der sich dennoch vergleichsweise still vollzieht. Nur einige Hundert der seinerzeit 123.000 Einwohner Schwerins sind gekommen, als am 28. April 1993 die Truppen der früheren Sowjetunion bei einem Festakt mit Parade und Platzkonzert auf dem Marktplatz offiziell aus Schwerin verabschiedet werden. Sie werden Zeugen eines historischen Augenblicks, der das Ende einer Ära markiert. Im Juli 1945 war die Rote Armee in die von den Amerikanern eroberte Stadt eingezogen. Fast ein halbes Jahrhundert lang hatte die Streitmacht das Leben in der Stadt mitgeprägt.
Zerfall der Sowjetunion bedeutet der Heimkehr ins Ungewisse
Mecklenburg-Vorpommerns damaliger Ministerpräsident Berndt Seite (CDU) hebt die historischen Leistungen der Sowjetsoldaten und Zivilisten hervor, von denen "im Kampf gegen Nazi-Deutschland weit über 20 Millionen ihr Leben verloren". Der Oberkommandierende der West-Streitkräfte der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), wie die ehemaligen Mitgliedstaaten der Sowjetunion heißen, Generaloberst Matwej Burlakow, gibt zum Abschied eine alte Volksweise zum Besten: "Ob im Osten, ob im Westen, in der Heimat ist's am besten." Der heimelige Abschiedsgruß ist zugleich Fanal eines Neuanfangs unter unklaren Vorzeichen. "Osten" und "Westen", das sind die Pole jener geordneten Welt, die mit dem Ende der Sowjetunion im Zusammenbruch begriffen ist. Die Rückkehr nach Hause wird zum Aufbruch ins Ungewisse.
Logistischer Kraftakt: 65.000 Soldaten verlassen MV
Mehr als 500.000 Soldaten, Zivilbeschäftigte und deren Familienangehörige kehren insgesamt in die Länder der früheren Sowjetunion zurück - allein 65.000 Soldaten aus Mecklenburg-Vorpommern. Auf den Straßen und Schienen im Land herrscht Hochbetrieb. Tausende mit Panzern, Artillerie, Ausrüstung und Munition beladene Eisenbahn-Güterzüge rollen unentwegt gen Nordosten - bis an die Spitze Rügens. Dort, im Hafen Mukran, warten die Fähren, die das Kriegsmaterial über die Ostsee bringen sollen - mehr als 1.500 Mal. Am 31. Juli 1994 läuft die "Greifswald" mit den letzten Resten des gewaltigen Waffenarsenals aus. 125.000 Kriegsgeräte, 2,7 Millionen Tonnen Ausrüstung und 677.000 Tonnen Munition sind damit fortgeschafft - ein logistischer Kraftakt.
Neuanfang für GUS-Soldaten im Chaos
In dem zerfallenden Riesenreich, das sich gerade radikal wandelte, war drei Tage vor der Verabschiedung in Schwerin per Referendum über die künftige Wirtschaftspolitik abgestimmt worden. Reformer Boris Jelzin setzte sich schließlich gegen konservative Kräfte im Kongress der Volksdeputierten durch. Die Wirtschaft rauscht in den Keller, die Versorgung droht zusammenzubrechen. Trotz eines acht Milliarden D-Mark schweren Hilfsprogramms der Bundesregierung mangelt es an Wohnraum für die Heimkehrer. Die Soldaten müssen teils erhebliche Einkommenseinbußen hinnehmen. Verdienten die Offiziere in Deutschland zuvor rund 900 Mark im Monat (450.000 Rubel), sind es in der Heimat nun nur noch 25.000 Rubel.
Trotz der schwierigen Lage daheim bleiben weniger Soldaten als befürchtet als Deserteure oder Asylbewerber zurück. "Dass trotz der Probleme der Abzug planmäßig erfolgt, kann nicht hoch genug bewertet werden", sagt der Regierungsbevollmächtigte Mecklenburg-Vorpommerns für den Abzug der GUS-Truppen, Friedhelm Meyer zu Natrup, seinerzeit.
Freunde und Besatzer: Gemischte Gefühle in Schwerin
Bei den Schwerinern löst der Abzug gemischte Gefühle aus. Ein Foto in der "Schweriner Volkszeitung" von der Parade auf dem Marktplatz zeigt Einheimische am Straßenrand. Sie verfolgen das Geschehen teils winkend, teils mit seltsam emotionsloser Miene. Im dazugehörigen Artikel gehen die Meinungen über die Verabschiedeten auseinander: Für die einen sind sie Freunde, für die anderen Besatzer.
Große Emotionen? Fehlanzeige. Nur an den äußersten politischen Rändern regt sich was: Am Bahnhof sollen bei der Abfahrt der Züge gen Osten bei einigen der einstigen SED-Parteigrößen Tränen, in den Wohnbezirken bei vereinzelten Übergriffen von Neonazis Blut geflossen sein. Darüber hinaus sind die Menschen wenige Jahre nach Mauerfall und Wiedervereinigung noch in erster Linie mit sich selbst beschäftigt.
Allgegenwärtige Präsenz im Stadtbild
Zuvor waren in Schwerin zwischen 7.000 und 20.000 Soldaten stationiert- überwiegend motorisierte Schützen. Neben Neustrelitz war die Stadt der größte sowjetische Truppen-Standort im Nordosten. Die großen Kasernen - insgesamt 19 Liegenschaften mit einer Fläche von 1.000 Hektar - waren über das gesamte Stadtgebiet verteilt. Doch trotz der allgegenwärtigen Präsenz verlief das Alltagsleben weitgehend nebeneinander her. Es gab zwar gemeinsame Feiern im Haus der Freundschaft, aber "die normale Bevölkerung kam eigentlich nur wenig mit denen in Berührung", so Rainer Blumenthal als damaliger Mitarbeiter vom Stadtarchiv Schwerin vor einigen Jahren gegenüber dem NDR. Freundschaften zwischen Schwerinern und Sowjets hätten sich eher schon auf Reisen entwickelt oder beim Studium in Moskau, wo die Nachwuchs-Elite der SED geschult wurde.
Bananen und Apfelsinen aus dem "Magasin"
Ein Ort, wo beide Gruppen miteinander in Berührung kamen, waren die "Magasin" genannten Einkaufsläden der Russen. "Die hatten dort keine Registrierkassen, sondern rechneten noch mit dem Abakus. Das war immer eine Überraschung, was man am Ende bezahlen sollte. Aber was tat man nicht alles für Apfelsinen und Bananen", so der Stadtarchivar. "Aber sobald ein Offizier den Laden betrat, musste man dem den Vortritt lassen."
Geplünderte Gärten: Soldaten teils "erbärmlich gehalten"
Auch in anderen Bereichen mussten die Einheimischen zurückstecken. Blumenthal lebte damals in der Nähe des Lazaretts, wo insbesondere die unteren Dienstgrade "erbärmlich gehalten" wurden. Bald standen auf dem Gelände mitten in der Stadt ein Gewächshaus und ein Schweinestall. "Trotzdem wurde immer wieder unser Garten geplündert, wegen der Äpfel und Birnen. Dabei ging der Zaun kaputt. Irgendwann haben wir dann freiwillig Tüten mit Obst an den Zaun gehängt. Die waren am nächsten Morgen immer weg. Wir sind auch mal zum Stadtkommandanten gegangen, um uns zu beschweren, aber das hat nichts gebracht. Der tat so, als wisse er von nichts."
Doch es gab auch lustige Episoden, an die sich Blumenthal erinnert. Etwa die Köpenickiade vom "falschen Hauptmann", einem hochdekorierten Offizier, der in den 1970er-Jahren in Schwerin auftauchte, sich als erster Stadtkommandant ausgab und auf Feierlichkeiten mit Geschenken überhäuft wurde, ehe der Schwindel aufflog.
"Die Russen lehnten jede Hilfe ab"
"Die Russen waren die Herren hier, das merkte man immer wieder", so Blumenthal rückblickend. Der russische Stadtkommandant und nicht der SED-Bezirkschef hätte das Sagen gehabt. "Vor allem bei Katastrophen merkte man das". Als Beispiel führt Blumenthal ein Ereignis aus dem Jahr 1984 an. Schwere Explosionen auf dem Gelände der Panzerkaserne erschütterten damals die sozialistische Vorzeigesiedlung Großer Dreesch. Ein Munitionsdepot war offenbar aus Fahrlässigkeit in die Luft geflogen. "Im Lazarett sah ich die vielen Krankenwagen mit Verletzten auf den Bahren. Ich sah auch viele zugedeckte. Es muss sehr viele Tote und Verletzte gegeben haben. Aber trotzdem lehnten die Russen jede Hilfe ab." Der Unglücksort wurde weiträumig abgesperrt. Deutsche wurden nicht herangelassen. "In der Zeitung stand am nächsten Tag nur eine kurze Notiz nach dem Motto: Brand in Kaserne schnell unter Kontrolle gebracht."
Kontaminiertes Erbe mit Treibstoff und Munition
Die abziehenden Soldaten hinterlassen 1993 ein ökologisches Schlachtfeld. In und um Schwerin werden zahlreiche wilde Müllkippen entdeckt. Über die Hälfte der von den Truppen genutzten Flächen sind mit Benzin, Diesel und Kerosin verseucht. Dazu die zurückgelassene Munition: Sie macht das Betreten der Areale zu einem lebensgefährliche Abenteuer. Allein für die Sanierung der Armee-Hinterlassenschaften in Mecklenburg-Vorpommern veranschlagt der Bund Kosten in Höhe von drei Milliarden D-Mark.
Stadtarchivar Blumenthal hat sich nach dem Abzug selbst in den Kasernen umgesehen: "Überall standen Kisten und Fässer herum. Keiner wusste, was da drin ist. Treibstoff und Panzerreinigungsmittel wurden einfach weggekippt." Ein Erlebnis ist dem Stadtarchivar besonders in Erinnerung geblieben. Es verdeutlicht, wie sorglos die Truppen mit den gefährlichen Stoffen umgegangen sind: "An der Krösnitz sind die Soldaten einfach in den Ostorfer See hineingefahren, um ihre Fahrzeuge zu waschen. Und nebenher haben die vergnügt gebadet."
Vom Haus der Offiziere zum Einkaufsparadies
30 Jahre nach dem Abzug gibt es nur noch wenige Spuren der russischen Truppen im Stadtbild. Dort, wo einst die sowjetischen Rekruten zum Appell antraten, spielen heute Kinder in den Gärten von Wohnsiedlungen. In andere ehemalige Armee-Gebäude sind Ministerien und Behörden eingezogen. Und aus dem ehemaligen Haus der Offiziere mitten in der Stadt ist mit einem riesigen Einkaufszentrum eine "Kathedrale des Kapitalismus" geworden.