Stand: 09.03.2019 09:30 Uhr

Wie Hamburger NS-Richter den Tod brachten

Zwei Koffer und ein Irrtum werden dem Hamburger Georg Baumann zum Verhängnis. Am 16. November 1943 verurteilt ihn ein Hamburger Kriegsgericht wegen Plünderns zum Tode. Der Soldat hat nach den schweren Bombenangriffen auf die Hansestadt im Sommer 1943 Urlaub von der Ostfront bekommen, um seine ausgebombten Eltern zu suchen. Was er findet, sind zwei Koffer in einem Luftschutzkeller. Weil er annimmt, dass sie seinen Eltern gehören, nimmt er sie mit. Später stellt sich heraus, dass es nicht die Koffer seiner Eltern waren. Das NS-Militärgericht unterstellt Baumann eine "verbrecherische Gesinnung" und kommt zu dem Schluss, dass er "die Notlage seiner Volksgenossen in der übelsten Weise ausgenutzt habe, um sich zu bereichern". Als "Volksschädling" komme daher aus Abschreckungsgründen nur die Todesstrafe in Betracht. Am 13. März 1944 wird Baumann im Alter von 20 Jahren hingerichtet.

Neue Forschungsergebnisse liegen vor

Das Todesurteil gegen Georg Baumann ist nur eines von Hunderten Todesurteilen, das NS-Kriegsrichter in Hamburg fällten. Lange Zeit wusste man nur wenig über ihr Wirken. Erst im Jahr 2012 sprach sich die Hamburgische Bürgerschaft für ein umfassendes Forschungsprojekt zur NS-Militärjustiz in der Stadt aus. Nun liegen die Ergebnisse in Buchform vor.

Erschossen oder enthauptet

Das Fallbeil im Untersuchungsgefängnis Hamburg, mit dem Todesurteile vollstreckt wurden. © Staatsarchiv Hamburg
Mit diesem Fallbeil wurden im Untersuchungsgefängnis am Holstenglacis etliche Opfer der NS-Militärjustiz hingerichtet.

Bei 225 Männern und zwei Frauen wurde das Todesurteil in Hamburg vollstreckt. In den allermeisten Fällen wurden sie entweder auf dem Schießplatz Höltigbaum im Stadtteil Rahlstedt erschossen oder im Untersuchungsgefängnis am Holstenglacis - am Rande von Planten un Blomen in der Innenstadt - mit dem Fallbeil enthauptet. "Ziel der Forschung war auch auszuloten, wie die Kriegsrichter ihre Todesurteile begründeten", sagt Claudia Bade im Gespräch mit NDR.de. Die Historikerin leitete das Forschungsprojekt.

Hitler: "Als Deserteur muss man sterben"

"Zweck der Wehrmachtjustiz war es nicht etwa, Allerweltsverbrechen wie Diebstahl, Betrug oder Totschlag zu bestrafen, bei denen der Täter 'zufällig' eine Wehrmachts-Uniform trug", erklärt Bade. "Hauptaufgabe der NS-Militärgerichte war es, mit ihren Urteilen die Disziplin in der Wehrmacht zu bewahren." Im NS-Jargon hieß das die "Aufrechterhaltung der Manneszucht". Um dieses Ziel zu erreichen, führten die Nationalsozialisten Militärgerichte zum 1. Januar 1934 wieder ein, die es in der Weimarer Republik nicht gegeben hatte, und schufen ihr eigenes Kriegsrecht. Demnach konnte nahezu jedes Delikt eines Soldaten mit dem Tode bestraft werden, "wenn es die Aufrechterhaltung der Manneszucht oder die Sicherheit der Truppe erfordert". Adolf Hitler hatte schon in seinem Buch "Mein Kampf" geschrieben: "An der Front kann man sterben, als Deserteur muss man sterben."

Todesurteile gegen Wehrmacht-Soldaten

Im Deutschen Reich ergingen während des Zweiten Weltkriegs mehr als 30.000 Todesurteile gegen Soldaten der Wehrmacht - wegen Fahnenflucht, Zersetzung der Wehkraft oder Befehlsverweigerung. Etwa 20.000 von ihnen wurden hingerichtet. Darüber hinaus verurteilten Wehrmachtrichter Tausende Wehrmacht-Angehörige, zivile Matrosen, Luftwaffenhelferinnen und ausländische Kriegsgefangenen zu teils langjährigen Gefängnis- und Zuchthausstrafen. Wehrmachtgerichte führten allein in Hamburg zwischen 65.000 und 90.000 Verfahren durch.

"Die Richter hatten Handlungsspielräume"

"Die Kriegsrichter hatten durchaus Handlungsspielräume, wenn auch in Maßen", sagt Historikerin Bade. "Sie konnten zwar nicht jeden Soldaten, dem eine Fahnenflucht vorgeworfen wurde, freisprechen. Aber sie konnten ein Vergehen mitunter auch als unerlaubte Entfernung von der Wehrmacht bewerten und dann ein geringeres Strafmaß festsetzen." Eine Fahnenflucht habe nur dann vorgelegen, wenn offensichtlich war, dass der Soldat sich bewusst und dauerhaft von der Wehrmacht entfernen wollte, so Bade.

Wer "unverbesserlich" ist, wird zum Tode verurteilt

Herbert Klein (ein Opfer der Hamburger Wehrmachtjustiz) steht in einer Stadt neben seiner Mutter.
Der Hilfskellner Herbert Klein aus Hamburg wurde als Deserteur zum Tode veruteilt und 1945 hingerichtet. Auf dem Foto ist er mit seiner Mutter zu sehen.

Die neueste Forschung zeigt auch: Die Todesurteile sollten diejenigen Soldaten treffen, die als nicht mehr "erziehbar" galten und somit als "unbrauchbar" für die Wehrmacht und die Volksgemeinschaft. Das zeigt das Beispiel des Hilfskellners Herbert Klein, der als Deserteur zum Tode verurteilt wurde. Er hatte sich wiederholt unerlaubt von der Truppe entfernt, um eine Frau in Hamburg zu treffen. Er sei ihr sexuell hörig gewesen und sie habe ihn immer wieder zur Flucht aus der Wehrmacht animiert, gab Klein an. Vergeblich. Das Gericht stufte den Hilfskellner als "vollkommen verdorbenen Menschen" ein und als "unverbesserlich". Die Todesstrafe sei "unerlässlich, um die Manneszucht aufrecht zu erhalten". Am 10. März 1945 wurde Herbert Klein im Alter von 23 Jahren hingerichtet.

"Solch drakonische Urteile zeigen, wie stark die Hamburger Militärrichter von der NS-Ideologie der 'Volksgemeinschaft' und der 'Wehrgemeinschaft' durchdrungen waren", meint Bade. "Beurteilten die Richter einen Angeklagten als 'minderwertig', 'asozial' oder 'unverbesserlich', so hatte er ihrer Ansicht nach sein Recht auf ein Weiterleben 'verwirkt'."

Besonders viele Todesurteile gegen Kriegsende

Auffallend viele Todesurteile gegen Wehrmacht-Soldaten ergingen in den letzten Monaten des Zweiten Weltkrieges. Selbst wenige Tage, bevor britische Soldaten am 3. Mai 1945 in Hamburg einmarschieren, wurden Verurteilte noch hingerichtet. "Es ist schon erstaunlich, dass die meisten NS-Militärrichter - vor allem im Hinblick auf die tatsächliche Kriegslage in Hamburg - ihre Rechtsprechung bis zum letzten Atemzug des 'Dritten Reiches' durchhielten", sagt Claudia Bade. Absetzbewegungen wie bei den "kleinen" NSDAP-Funktionären habe es bei den Hamburger Militärrichtern nicht gegeben - sei es aus Pflichtgefühl, ideologischer Verblendung oder aus Sorge vor einem zweiten "November 1918". Nach dem Ersten Weltkrieg war der Vorwurf aufgekommen, dass die damalige Militärjustiz die "Drückeberger" und "Zersetzer" unter den Soldaten zu milde und nachlässig bestraft habe, sodass sie erhebliche Mitschuld an der Niederlage des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg trage.

Dieses Thema im Programm:

NDR 90,3 | NDR 90,3 Aktuell | 24.11.2015 | 17:00 Uhr

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