Zwischen Flak-Splittern und nahbaren Briten
Für Peter Maertens aus Hamburg endete der Zweite Weltkrieg als Jugendlicher im Alter von 14 Jahren. Die Kriegsjahre erlebte er als Junge im Stadtteil Harvestehude, seine Eltern sind Schauspieler. Seine jüdische Mutter überlebt den NS-Terror nur durch eine List.
Als Junge verbringt Peter Maertens seine Zeit am liebsten auf der Moorweide, einer großen Wiese nahe des Bahnhofs Dammtor - mit Indianer-Spielen oder Sport. "Ich bin immer hinter Bällen hergelaufen: Am liebsten spielte ich Fußball und Tennis." Das Kriegsgeschehen und den Terror der Nationalsozialisten wollen seine Eltern möglichst von ihm fernhalten. "Aber auch als Kind bekommt man es ja trotzdem mit."
Angst vor dem KZ: Die Großeltern vergiften sich
Zumal seine Familie große Ängste auszustehen hat: Die Mutter stammt aus einer jüdischen Familie. Die jüdischen Großeltern leben damals in Berlin, sie müssen einen Judenstern tragen. "Und dann hieß es, sie sind Gott sei Dank gestorben, bevor sie abtransportiert wurden", schildert Peter Maertens seine Erinnerungen in der NDR Dokumentation "Als der Frieden in den Norden kam". Erst später habe er erfahren, dass sich seine Großeltern vor dem Transport in ein Konzentrationslager vergiftet hatten.
Ein preußischer Offizier als "neuer Großvater"
Auch seine Mutter in Hamburg leidet seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten unter deren Terror. Seit 1935 darf sie nicht mehr als Schauspielerin arbeiten. "In ihrer Mischehe passierte ihr zwar nicht gleich etwas, aber 1944 drohte auch ihr ein Abtransport nach Auschwitz oder Theresienstadt", erzählt Peter Maertens. "Und da kam die Familie auf eine Art Eulenspiegel-Streich." Auf eine List, die der Mutter das Leben retten sollte: Die Familie behauptet, dass ein preußischer Offizier der wahre Vater der Mutter sei. Denn die Großmutter hatte einmal ein Verhältnis mit diesem Offizier gehabt. Und tatsächlich gelingt es den Eltern von Peter Maertens, die zuständigen Stellen zu überzeugen. Fortan gilt seine Mutter als Halbjüdin. "Das ist die irre Geschichte ihrer Rettung", sagt Maertens. "Und ich konnte als Viertel-Jude noch ein halbes Jahr in Blankenese auf die Oberschule gehen." Das war ihm zuvor nicht möglich gewesen. Nun kann er auch endlich in den HSV eintreten, um Fußball zu spielen.
Nach den Luftangriffen: Flak-Splitter aufgesammelt
An die Luftangriffe auf Hamburg erinnert sich der heute 88-Jährige noch gut. Viele Bomben-Schäden habe es in seiner Gegend jedoch nicht gegeben. "Ich habe zwar die ganzen Luftangriffe gehört, und ich habe auch mal Tote unter einer Decke gesehen, wo die Füße so rausguckten." Die Angriffe seien in seinem Stadtteil aber nicht so verheerend gewesen wie etwa im Stadtteil Rothenburgsort. "Die großen Zerstörungen habe ich in der Zeitung gesehen oder von der Bahn aus, wenn ich durch die Stadt fuhr." An einen Abend mit Luftalarm erinnert Maertens sich noch genau. "Da musste ich, weil es so kalt war, so einen schrecklichen, pieksenden Pullover anziehen." Und dann: Runter in den Keller. "Dort hörst du all diese Geschosse und Bomben. Passiert ist uns aber nichts. Und am nächsten Tag habe ich mit meinen Freunden Flak-Splitter gesammelt."
3. Mai 1945: Hamburg kapituliert
Dann plötzlich ist der Krieg zu Ende, Hamburg kapituliert am 3. Mai 1945. "Für uns war die neue Zeit mit großen Hoffnungen verknüpft", erinnert sich Peter Maertens. Der Druck, der jahrelang auf der Familie gelastet hat, weicht. "Meine Mutter war natürlich glücklich, davongekommen zu sein", so Maertens. Viele hätten damals gedacht: Gott sei Dank, dass diese Diktatur vorbei ist! Jetzt wird alles besser!
Freiheit als "tolles Erlebnis für alle"
Abgesehen von Hunger und Kälte erlebt Maertens die ersten Nachkriegsjahre als "natürlich sehr aufregend": "Dass du wählen konntest, dass dir niemand befahl, etwas zu tun, was du nicht selbst wolltest. Das war einfach ein tolles Erlebnis für alle", fasst er das Lebensgefühl jener Zeit zusammen.
Das Theater blüht wieder auf
Auch am Theater ist dieser Aufbruch in der Nachkriegszeit zu spüren, da nun all diejenigen Stücke aufgeführt werden können, die im Krieg verboten gewesen sind. "Und da es kein Fernsehen gab, war es so, dass das Thalia Theater, glaube ich, 13.000 Abonnenten hatte. Wenn mein Vater mit seinem Chauffeur durch die Innenstadt nach Hause fuhr, sagte er: 'August, fahr vorsichtig! Jeder könnte ein Abonnent sein."
Aus sechs Wochen werden 18 Jahre
Peter Maertens Vater war kurz nach dem Krieg zum neuen Intendanten des Thalia Theaters aufgestiegen. Sein Vorteil damals: Er war im Dritten Reich nicht Mitglied in der NSDAP. "Die Schauspiel-Kollegen sagten also zum ihm: 'Ach, Willy, mach du das doch!'" Die britische Militär-Regierung muss allerdings über den Vorgang entscheiden - und stimmt schließlich unter einer Bedingung zu: "Well, but only for six weeks!" "Aber aus diesen sechs Wochen sind dann 18 Jahre Intendanz geworden", sagt Maertens mit einem Schmunzeln.
Das lose Mundwerk der Briten
An die britischen Besatzer hat Maertens nur gute Erinnerungen. Viele Briten sind ab 1945 in seiner Nachbarschaft einquartiert - und mit einigen handelt er sogar. "Da haben wir zum Beispiel Uhren gegen etwas zu essen getauscht", erzählt der Hamburger. "Und dann gab es da einen älteren Briten, der sehr nett war. Den haben wir gefragt: Was heißt das eigentlich, diese 'Fucking off', das Sie ständig sagen? Da hat er geantwortet: 'Das ist noch nichts für euch."
Nie wieder Steckrüben!
Im Haus seiner Familie ist die Not nicht groß. "Gehungert haben wir in den Nachkriegsjahren nicht", erinnert sich Peter Maertens. Nur Steckrüben, die mochte er einfach nicht mehr essen, weil es die andauernd gab. "Was ich hingegen als Junge wahnsinnig gerne gegessen habe, war Spinat mit Zucker - und Rhabarber-Kompott."
Das Phänomen Schwarzmarkt erlebt der Junge auf seinem Heimweg von der Schule. Auf einem Platz an der Moorweide stehen die Händler. "Das fanden wir Schüler ganz interessant. Geld hatten wir aber nicht. Und plötzlich hieß es: 'Oh, da kommt die Militärpolizei!' Da liefen alle auseinander. Das bleibt im Gedächtnis."
Arzt oder Schauspieler?
Mit 15 Jahren geht Peter Maertens in die Tanzschule. "Das fand ich sehr aufregend." Ein guter Schüler ist er nicht, vor allem in Mathematik gibt es regelmäßig schlechte Noten. "Weil mein Mathe-Lehrer mich einmal beim HSV Fußball spielen gesehen hat, hat es gerade noch zu einer 4- gereicht." Sein Abitur schafft Maertens schließlich "mit Hängen und Würgen". Und dann steht die Berufswahl an. "Ich habe lange geschwankt zwischen Arzt und Schauspieler. Aber ich glaube, für ein Arzt-Studium war mein Zeugnis nicht gut genug. Da habe ich gedacht: Versuche es mal mit der Schauspielerei."
Es ist die richtige Wahl: 1954 startet Peter Maertens seine Bühnen-Karriere. In vielen Häusern der Bundesrepublik begeistert er über Jahrzehnte hinweg das Theater-Publikum. Selbst im Alter von 88 Jahren hat er noch in Aufführungen des Thalia Theaters in Hamburg mitgespielt.