Kriegsende in Braunschweig: Aufgewachsen in Ruinen
Eckhard Schimpf, später stellvetretender Chefredakteur der "Braunschweiger Zeitung" und Buchautor, war sechs Jahre alt, als das Deutsche Reich kapitulierte. Schon etwa drei Wochen zuvor befreiten US-amerikanische Soldaten seine Heimatstadt Braunschweig.
Als es dunkel wird, kreisen wieder Flugzeuge über der Stadt. Doch in dieser Nacht ist etwas anders, als Eckhard Schimpf aus dem Halbschlaf hochschrickt. "Du kannst weiterschlafen, es ist Frieden." Die Worte seiner Mutter ändern alles für den Sechsjährigen - seine ganze Welt. Das Ende der Bombenangriffe. Das Ende der endlosen Nächte im Bunker. Das Ende des Krieges in Braunschweig.
Schokolade und Pfannkuchen von den GIs
Als er dem einstigen Feind am nächsten Morgen zum ersten Mal tatsächlich gegenübersteht, ist der kleine Eckhard überrascht. Solche Soldaten hatte er noch nie gesehen. Das Hemd offen, die Beine baumeln aus dem Jeep. "Wir kannten nur Parade, blankgewichste Stiefel und Kommandos", erinnert sich Schimpf im NDR Fernsehen. "Die Amerikaner sahen irgendwie lässig aus." Die Soldaten haben Schokolade und Pfannkuchen für die Kinder. Eine kleine Freude nach dem Wahnsinn der letzten Wochen und Monate.
Das Ende des Krieges in Braunschweig
Der Kreisleiter der NSDAP in Braunschweig, Berthold Heilig, hatte die Stadt noch Stunden vor der Übernahme durch die US-Amerikaner zur Festung erklärt, die "bis zur letzten Patrone" gehalten werden solle. Heilig selbst zog es dann allerdings vor, sich nach Berlin abzusetzen. Später floh er über die "Rattenlinie", die geheime Fluchtroute vieler Nazis nach Argentinien.
Kinderspiele in Braunschweigs Ruinen
Braunschweig ist eine Stadt in Schutt und Asche. Doch Schimpf und seine Freunde lassen sich davon nicht aufhalten. Ganz im Gegenteil. "Wir spielten praktisch nur in Ruinen und Trümmern. Das war ein wunderbares Spielrevier", sagt er. Sie finden Patronen und Koppelgürtel der Soldaten - einmal auch einen Säbel. Ohne Aufsicht toben sie durch die Häuserschluchten. Die Eltern haben ohnehin viel um die Ohren.
Das große Schweigen
Drei Dinge prägen die Zeit: Schwarzmarkt, Flüchtlinge und das große Schweigen. Es wird nicht geredet, nicht über heute und erst recht nicht über gestern. "Bestimmte Gespräche verstummten, wenn ich am Tisch war", erinnert sich Schimpf. Für viele Kinder sei das allerdings nichts Neues gewesen. Schon während der NS-Diktatur sei es für seine Eltern gefährlich gewesen, offen mit ihren Kindern zu reden. Die Befürchtung war, dass die Kinder Dinge vom Küchentisch in der Schule oder dem Kindergarten weitererzählen. Dinge, die die Eltern in große Gefahr gebracht hätten - etwa Kritik am System.
Betrogen mit Kartoffelbrei
Überleben ist die Devise, auch nach dem Krieg. Der Hunger ist allgegenwärtig. Als vor dem Haus der Schimpfs ein Pferd zusammenbricht, dauert es keine Minuten, bis die ersten dabei sind, sich große Stücke Fleisch herunterzuschneiden. Zwar sind Schimpfs Eltern mit einer Apotheke in einer vergleichsweise guten Position, doch auch seine Mutter versucht, auf dem Schwarzmarkt an Notwendiges zu kommen. Eines Tages ersteht sie ein Stück Butter für 250 Mark. Doch zu Hause folgt die böse Überraschung: Als sie die Butter auspackt, bemerkt sie, dass sie betrogen wurde. Es steckt nur billiger Kartoffelbrei in dem Paket.
Zwangsarbeiter und Flüchtlinge strömen nach Braunschweig
Es gibt nicht genug zu essen, dazu ist die Stadt völlig überfüllt. Tausende ehemalige Zwangsarbeiter, die in der NS-Zeit zum Beispiel in den nahegelegenen Salzgitter-Werken schuften mussten, sind nun auf freiem Fuß und strömen nach Braunschweig. Massen von Flüchtlingen vor allem aus dem Osten des Reichsgebietes halten sich außerdem in Braunschweig auf. "In Wohnungen, wo normalerweise vier Leute lebten, waren jetzt 16", sagt Schimpf. Die Schülerzahl in seiner Klasse klettert von 25 auf 60.
Die "Neuen" kommen
Viele der Neuankömmlinge sind traumatisiert nach der Flucht, bei der sie oft Angehörige verloren haben und zum Ziel von Fliegerangriffen wurden. Auf viel Verständnis in der neuen Heimat dürfen sie allerdings nicht hoffen. "Sie waren nicht gern gesehen", so Schimpf. Jeder Neue bedeutet auch neue Konkurrenz. Und es kommen täglich mehr: Ganze Züge ehemaliger Kriegsgefangener rollen ein. Mütter und Ehefrauen stehen an den Gleisen und hoffen auf die Rückkehr ihrer Lieben. Oft vergeblich. Es sind Bilder, die sich dem Jungen eingeprägt haben.
Mit Sand im Mund: "Es kann nur besser werden"
Not und Überlebenskampf, das ist - fernab des kindlichen Spiels in Ruinen - der Alltag. Das Bühnenbild ist eine Trümmerwüste, ausrangierte Panzer und Kanonen an jeder Ecke. Aber: Es macht sich überall Aufbruchstimmung breit. Auch in Braunschweig. "In dieser Stadt war ein ständiges Summen und Scharren und Baggerlärm. Man hatte immer ein paar Sandkörner im Mund", sagt Schimpf. Das Motto der Tage: Es kann alles nur besser werden.