Holocaust: "Wir brauchen eine neue Erinnerungskultur"
Am 27. Januar jährt sich die Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz zum 75. Mal. Wenige Monate später wurden auch die Häftlinge des in Norddeutschland liegenden KZ Bergen-Belsen befreit. Historische Ereignisse, die zum Nachdenken anregen: Wie erinnern wir heute und in Zukunft an die NS-Diktatur? Wie kann und soll das Wissen um die Verbrechen aufbereitet werden, wenn die Zeitzeugen von damals nicht mehr leben?
Jens-Christian Wagner, Leiter der Gedenkstätte Bergen-Belsen in der Lüneburger Heide, sagt: Wir brauchen eine neue Erinnerungskultur. Wie könnte diese aussehen?
"An was sollen sich 16-jährige Schülerinnen und Schüler erinnern, die eine Gedenkstätte wie Bergen-Belsen besuchen und hier mit Dingen konfrontiert werden, die selbst ihre Großeltern aus generationellen Gründen nicht mehr erlebt haben?!" - Das ist die provokante Frage von Gedenkstätten-Leiter Jens-Christian Wagner. "Da wirkt dann der Appell, sich an etwas erinnern zu sollen als eine Überfrachtung, die zusätzlich auch noch moralisch aufgeladen ist. Denn man sieht in diesen Appellen auch einen erhobenen moralischen Zeigefinger."
So gehe es an dieser Stelle nicht um das Erinnern im eigentlichen Sinn, sagt Wagner: "Was wir hier wollen ist, in der Gesellschaft historisches Geschichtsbewusstsein zu verstärken. Unsere Besucherinnen und Besucher zu ermuntern und darin zu stärken, historisches Urteilsvermögen zu haben."
Bergen-Belsen: Gedenkstätte mit Aktualitätsbezug
Der Historiker plädiert dafür, Aktualitätsbezüge in der Gedenkstättenarbeit stärker zu platzieren und zu fragen: Welche Themen sind für Jugendliche heute relevant? Welche Ausgrenzungserfahrungen haben sie zum Beispiel gemacht? Wo spielt die Frage der Herkunft in ihrem Leben eine Rolle? Dabei gehe es nicht um eine allgemeine Menschenrechtserziehung, denn das sei nicht Aufgabe der Gedenkstätten. Den Besucherinnen und Besuchern bleibe es selbst überlassen, mögliche Bezüge zur eigenen Realität herzustellen.
"Um ein Beispiel zu nennen: Wir zeigen in unserer Dauerausstellung im Abschnitt zum "Displaced Persons Camp Bergen-Belsen" den "Fall Exodus". Das war ein Schiff, das 1947 mit 4.600 jüdischen Überlebenden versuchte nach Palästina zu kommen", so Wagner. "Die britische Mandatsmacht in Palästina, um genau zu sein in Haifa, verhinderte das Einlaufen dieses Schiffes. Das Schiff wurde dann zurückgeschickt und kein Hafen im Mittelmeerraum war bereit, diese Flüchtlinge - de facto diese Schoah-Überlebenden - aufzunehmen."
Wunsch nach einer integralen Gedenkkultur
Ein Beispiel, sauber aus der Geschichte herausgearbeitet, ergänzt Jens-Christian Wagner. Er ist auch Geschäftsführer der Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten und weiß, dass eine historisch genaue Darstellung essentiell ist, denn: Bauliche Überreste, Dokumente und Schriften sind nicht nur Relikte, sondern auch Beweismittel - und Beweismittel können nicht nachgestellt werden. Das würde die Glaubwürdigkeit der Gedenkstätte infrage stellen und sie für Anfeindungen von Geschichtsrevisionisten und Holocaust-Leugnern angreifbar machen. Bereits seit den 1990er-Jahren hat sich darum in fast allen Gedenkstätten ein sogenanntes Rekonstruktionsverbot durchgesetzt. Neben der historisch fundierten Aufbereitung der Quellen und dem Herausarbeiten von Geschichte mit Realitätsbezug wünscht sich Wagner für die Zukunft auch noch etwas anderes: Eine integrale Gedenkkultur.
"Das heißt, dass wir sowohl die Orte, an denen NS-Verbrechen begangen wurden, die sogenannten Opferorte, in den Blick nehmen, als auch Orte, an denen sich das NS-Regime selbst inszeniert hat. Auch die Gestapo-Zentralen, die in den Städten lagen, müssen stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt werden", so Wagner. Man müsse deutlich machen, dass die NS-Verbrechen flächendeckend stattgefunden haben und dass es öffentliche Verbrechen gab, die von einem großen Teil der Deutschen - auch wenn sie nicht aktiv beteiligt waren - zumindest beobachtet wurden.