Tradition seit 1899: Konfitüre aus Bad Schwartau
Am 3. Juli 1899 gründen zwei Brüder in Bad Schwartau eine Fabrik, die zunächst Bohnerwachs herstellt, bald aber feine Konfitüren produziert. Die Industrialisierung der Lebensmittelbranche beginnt.
Am 3. Juli 1899 gründen die Brüder Paul und Otto Fromm vor den Toren der Hansestadt Lübeck die Chemische Fabrik Schwartau. Sie sind im Vorjahr aus Rostock gekommen, haben sich ein Grundstück gesichert und die Nutzung der Trave genehmigen lassen.
Bohnerwachs für die kaiserlichen Amtsflure
Paul hat im mecklenburgischen Laage eine Ausbildung zum Apotheker absolviert und ist promovierter Chemiker. Otto ist Kaufmann. Mit sechs Arbeitern produzieren sie zunächst Bohnerwachs und Fußbodenöl für die Ämter, Schulen und Kasernen, die im Kaiserreich überall errichtet werden. Aber auch hanseatische Kontore und bürgerliche Villen brauchen die Pflegemittel für den vornehmen Glanz.
Das Interesse gilt schon anfangs dem süßen Brotaufstrich
Doch die Brüder experimentieren auch mit der Herstellung von Lebensmitteln: Kunsthonig, Pflaumenmus, Preiselbeerkompott, vor allem aber Marmelade und Konfitüre, wie der Historiker Christian Vogt in seiner Firmengechronik aus dem Jahr 2019 schreibt. Ihr Ziel ist die erfolgreiche Produktion der beliebten Brotaufstriche.
Um 1900 beginnt die industrielle Lebensmittelproduktion
Denn überall wird in diesen Jahren an der Massenproduktion von Lebensmitteln gearbeitet. Im 19. Jahrhundert ist die Bevölkerung unaufhörlich gewachsen, wegen verbesserter medizinischer Versorgung und Fortschritten im landwirtschaftlichen Anbau. In den Großstädten ballen sich die Menschen, wo sie zumeist auf einen Garten verzichten müssen und sich nicht selbst versorgen können.
Findige Unternehmer gründen Lebensmittelfabriken
In Hannover hat Hermann Bahlsen 1889 eine Keksfabrik gegründet, die mehr als 300 Arbeiter beschäftigt und 1905 das erste Fließband in Europa in Betrieb nimmt. In Altona entwickelt Andreas Harry den Familienbetrieb zur Großbäckerei und produziert jetzt täglich massenhaft Brote für den wachsenden Markt.
Gute Bedingungen in Schwartau
Nur an Beeren und Obst hat sich bisher kaum jemand gewagt. Denn sie verderben schnell und die Produkte sind schwierig zu verpacken. In Schwartau, das erst ab 1913 Bad Schwartau heißt, sind die Voraussetzungen für die Herstellung von Fruchtaufstrichen jedoch unerwartet günstig. Auf dem Fabrikgrundstück gibt es eine eigene Quelle mit sauberem Wasser. Über die Trave und die Eisenbahn können Beeren und Obst in großen Mengen herangeschafft, die Produkte schnell versandt werden. Rübenzucker ist günstig. Und mit Emaille-Eimern hat man endlich die richtigen Behälter gefunden, sodass verarbeitetes Obst und Beeren bald für breite Schichten erschwinglich werden.
Konfitüre aus der Schwartauer Fabrik
1907 geben die Brüder Fromm das Geschäft mit Bohnerwachs und Fußbodenöl auf und setzen fortan ganz auf die Herstellung von süßem Brotaufstrich. Sie wandeln die Firma in eine GmbH um, mit 600.000 Mark Stammkapital und 70 Arbeiterinnen und Arbeitern.
Die Produktion ist auf dem neusten Stand. "Eine Hauptdampfmaschine befeuerte über Rohrleitungen die Dampfkessel, um die Kocheinheiten mit Hitze zu versorgen", heißt es in der Firmenchronik. So werden auch mithilfe einer zwischengeschalteten Dynamo-Maschine Lichtanlagen und Ventilatoren betrieben. Zuckermühlen, Zitronenreiben, Honig- und Sirupschmelzen bereiten die Zutaten und Rohstoffe vor, bevor sie große Rührwerke vermischen. Dann werden sie in drei großen Emaillekesseln eingekocht, die 2.000, 1.500, 1.000 Liter fassen.
Die Kunden bestellen telegrafisch
Im Expeditionsraum erfolgt zuletzt die Abfüllung zumeist in Eimern für 2,5 bis 17,5 Kilo, die ein Holzdeckel fest verschließt. Für sehr große Mengen bis 500 Kilo werden Holzfässer und Feldkessel verwendet. Zur Direktbestellung können die Kunden modernste Technik nutzen. Die gerade erst erfundene Telegrafie macht es möglich. Per Codewort, das sie einem Katalog entnehmen, ordern sie Produkt, Menge und Größe. Wer zum Beispiel "7 Mondschein" an die Schwartauer Fabrik telegrafiert, erhält umgehend sieben Eimer Kunsthonig à fünf Kilo zugesandt.
In Schwartau werden immer neue Produkte entwickelt
Die Geschäfte florieren. Um das Jahr 1910 werden weitere Gesellschafter aufgenommen. Kaufleute aus Lübeck und Hamburg sowie Banken bringen noch einmal Kapital in Höhe von 300.000 Mark ein. 1909 werden zwölf Prozent Dividende gezahlt. Drei Jahre später kommt die "Schwartauer Fünffrucht-Confitüre" auf den Markt, erstmals in einer Dose statt in Eimern, wodurch sie im Haushalt noch besser zu lagern ist. Auch das Pflaumenmus und der Kunsthonig Marke "Holstentor" entwickeln sich zu Verkaufsschlagern.
Die Gründer genießen den Erfolg nur kurz
Das Unternehmen wird 1912 zur Aktiengesellschaft, firmiert jetzt als "Schwartauer Honigwerke und Zuckerraffinerie AG". Kaufmann Otto Fromm bezieht mit seiner Familie eine repräsentative Villa in der vornehmen Schwartauer Bahnhofstraße. Chemiker Paul wohnt mit seiner Frau und drei Kindern in der Lübecker Altstadt. Doch die Gründer können den Erfolg ihres Unternehmens nur wenige Jahre genießen. Paul scheidet bald aus der Firma aus, die Gründe sind nicht bekannt. Seine Spur verliert sich allmählich, möglicherweise stirbt er in einer Nervenklinik. Später arbeitet seine Tochter noch eine Zeit lang in der Abteilung Lebensmitteltechnik mit. Otto gehört bis 1915 dem Vorstand der AG an, dann erkrankt er an Nierenkrebs und stirbt in Berlin.
Die Schwartauer verdienen am Krieg
Im Ersten Weltkrieg produziert die Fabrik Tag und Nacht Brotaufstrich für die Soldaten des Kaisers. 1916 erzielt das Unternehmen einen Reingewinn von 1,9 Millionen Mark, das 17-Fache des letzten Vorkriegsgewinns, bevor Arbeitskräfte, Rohstoffe und vor allem Zucker knapp werden.
In den 1920er-Jahren wird modernisiert
Nach dem Krieg bleibt der Zucker zunächst teuer, die Konzernleitung setzt deshalb auf die Erweiterung des Produktangebots, gründet Tochterfirmen, die Bonbons, Pralinen und Marzipan herstellen. Nachdem die Inflationszeit überstanden ist, wird modernisiert. Neue Maschinen werden angeschafft und Wohnungen für Angestellte errichtet.
Der Künstler Alfred Mahlau, der auch Verpackungen für die Lübecker Marzipanfirma Niederegger gestaltet, entwickelt das bis heute genutzte Logo, die Silhouette der Stadt Lübeck mit den sieben Türmen, wie man sie von Bad Schwartau aus sieht. 1927 werden dann die drei Unternehmen zur Schwartauer Werke AG zusammengeführt.
Im nationalsozialistischen Wirtschaftssystem
Nach 1933 wird Marmelade zum "Volksbrotaufstrich" erklärt und staatlich subventioniert. Wie viele andere Unternehmen dienen sich die Schwartauer Werke den braunen Machthabern an, um ihre wirtschaftliche Stellung im zunehmend von staatlicher Seite regulierten Markt zu sichern. Vorstände treten in die NSdAP ein, die NS-Wirtschaftspolitik wird gelobt, "nichtarische" Mitarbeiter ausgegrenzt, wie Christian Vogt in seiner Firmenchronik berichtet. Im Krieg kann der Umsatz dann wegen großer Lieferungen an die Wehrmacht noch einmal erheblich gesteigert werden. Weil viele Arbeiter eingezogen werden, setzen die Schwartauer Werke zunehmend Zwangsarbeiter aus Polen und der Sowjetunion ein. Im Jahr 2000 bekennt sich das Unternehmen zu seiner Verantwortung und beteiligt sich an der Finanzierung der Stiftungsinitiative Erinnerung, Verantwortung und Zukunft, die Menschen, die unter dem NS-Regime Zwangsarbeit geleistet haben, unterstützt.
Neuanfang in der Nachkriegszeit
Nach dem Neuanfang in der Nachkriegszeit entwickeln die Schwartauer Werke 1962 die Konfitüre "Schwartau Extra", die noch immer in mehr als 20 Geschmacksrichtungen hergestellt wird. Das Glas mit der Taille kommt 1969 erstmals auf den Markt und ist bis heute unverwechselbar.
1984 verbucht das Unternehmen einen weiteren großen Innovationserfolg. Die Geschäftsführer entdecken auf ihrer Studienreise durch die USA in einem Supermarkt die gut sortierte "Granola-Bar". Sie erkennen das Potenzial dieser Art von Snack sofort. Denn in Deutschland ist er so unbekannt, dass die Schwartauer neben dem Produktnamen "Corny" auch die Bezeichnung "Müsli-Riegel" erfinden, die sich bald allgemein durchsetzt.
Beeren und Früchte kommen aus aller Welt
Seit 2002 sind die Werke Teil des Schweizer Lebensmittelherstellers Hero AG, nachdem sie jahrzehntelang zum Konzern der Familie Oetker gehört haben. Heute arbeiten fast 1.000 Menschen in dem Unternehmen, werden jährlich rund 80 Millionen Gläser Konfitüre und rund 760 Millionen Müsli-Riegel produziert. Die exotischen Beeren und Früchte für den Brotaufstrich stammen aus fernen Ländern, die meisten Rohstoffe kommen jedoch aus Europa und werden je nach Saison auch in der Region um Bad Schwartau gepflückt.