Als das erste Telegramm von Cuxhaven nach Hamburg geht
Am 4. Oktober 1848 wird in Cuxhaven ein Morsetelegraph in Betrieb genommen. Er soll ankommende Schiffe nach Hamburg melden, um Be- und Entladungen besser planen zu können. In Europa beginnt das Zeitalter der modernen Telekommunikation.
Gegen 17 Uhr setzt sich an jenem Oktobertag der Morsetelegraph plötzlich in Bewegung. Er steht in der Hamburger Börse am Adolphsplatz. Ein eiserner Stift prägt Punkte und Striche in den mechanisch ablaufenden Streifen einer Papierrolle. Dann nimmt ein Telegraphist den Papierstreifen und entschlüsselt die Zeichen.
Die Nachricht kommt aus dem rund 130 Kilometer entfernten Cuxhaven. Wenige Minuten zuvor hat ein anderer Telegraphist die Punkte und Striche mithilfe einer Taste in den dortigen Apparat "geschrieben", der mit einer Batterie verbunden ist. Ein kurzer Druck auf die Taste für einen Punkt, ein langer Druck für einen Strich. Als elektrische Impulse sind sie über einen Draht nach Hamburg übertragen worden. Hier erzeugen sie im Empfangsgerät ein Magnetfeld, das den eisernen Stift anzieht und zum Schreiben bringt.
Der Morsetelegraph ist eine Revolution
Die Meldung ist für die Hamburger Kaufleute von großer Bedeutung. Sie lautet: Die dänischen Kriegsschiffe, die den Seehandel seit Beginn der Schleswig-Holsteinischen Erhebung im Frühjahr blockieren, haben die Elbmündung endlich verlassen - wohl infolge des kurz zuvor geschlossenen Waffenstillstands von Malmö.
Und sie bedeutet eine Revolution. Denn erstmals hat der Telegraph des Erfinders Samuel Morse, der seit einigen Jahren in den USA Erfolge feiert, auch in der Alten Welt eine Nachricht verschickt, ja sogar geschrieben. Damit beginnt auch in Europa das Zeitalter der modernen Telekommunikation.
Zuvor sind Nachrichten nur durch Boten übermittelt worden, durch Brieftauben und optische Signale. Hierbei werden Zeichen mit Scheinwerfern oder durch die Stellung von Hebelarmen weitergegeben.
Hamburger Kaufleute nutzen bereits optische Telegraphie
Zwar gibt es seit 1837 eine solche Verbindung, die der Altonaer Essigfabrikant Johann Ludwig Schmidt betreibt. Sie meldet alle Schiff, die in die Elbmündung einlaufen, nach Hamburg weiter. Dann können sich die dortigen Reeder und Kaufleute vorbereiten, sie sparen auf diese Weise Zeit und Geld.
Die Vorteile der elektrischen Telegraphie
Aber das optische System ist teuer und anfällig. Sechs Zwischenstationen mit 32 Telegraphisten leiten die Nachricht von Turm zu Turm. Bei Nebel, Regen und Dunkelheit sind die Hebelarme überhaupt nicht zu erkennen.
Deshalb gründet eine Gruppe Hamburger Kaufleute und Reeder 1847 die Electro-Magnetische Telegraphen-Compagnie. Sie soll mithilfe des Morsetelegraphen schneller und effektiver arbeiten. Denn der übertrifft alle ähnlichen Apparate bei Weitem, weil er bleibende Zeichen liefert.
Der Konkurrent verkennt das Potenzial von Morses Erfindung
Johann Ludwig Schmidt, der Betreiber des optischen Telegraphen, interessiert sich nicht für diese Innovation. Aber Schmidts 46-jähriger Inspektor Friedrich Clemens Gerke erkennt die Vorteile des Morseapparats nach einer Vorführung sofort und heuert bei der neuen Gesellschaft an.
Mit dem elektrischen System können Nachrichten nun auch bei schlechtem Wetter und sogar nachts übermittelt werden. Und die Betriebskosten sind weitaus geringer - für die Kaufleute ein wichtiges Argument. Denn die elektromagnetische Telegraphenlinie kommt mit drei Nebenstationen und nur acht Angestellten aus.
Inspektor Gerke baut die neue Linie auf
Gerke ist die treibende Kraft beim Aufbau der Leitung aus Eisendraht, die Hamburg mit Cuxhaven verbinden soll. So hat es Hans Brecht in der Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte im Jahr 2000 beschrieben. Die Elbe lässt Gerke zwischen Stintfang und Steinwerder auf 50 Meter hohen Masten überqueren, damit der Schiffsverkehr nicht behindert wird, und an Wegen und Straßen 2.800 Telegraphenpfähle eingraben.
Vergebens versucht der Konkurrent den Bau zu verhindern
Dabei kommt es immer wieder zu Konflikten. Nicht nur mit den hannoverschen Behörden, über deren Staatsgebiet die Linie führt, sondern auch mit den betroffenen Grundbesitzern. Die hat der Konkurrent Schmidt aufgehetzt, ihnen Schauergeschichten erzählt. Dass die elektrischen Leitungen den Blitz anziehen, Regenwolken verhindern und zu Missernten führen etwa. Bald muss Militär eingesetzt werden, um Sabotageakte zu verhindern. Die Beschädigung der Anlagen wird unter Strafe gestellt. Mit hohen Zahlungen an die "geldgierigen Bauern", wie Gerke später berichtet, sorgt er jedoch für Ruhe.
Der Betrieb des Telegraphen
Am 15. Oktober 1848 nimmt der Morsetelegraph den regulären Betrieb auf. Neben Schiffsmeldungen und Handelsnachrichten für die Börse übermittelt er auch private Mitteilungen. Boten stellen sie zu, in der wachsenden Hansestadt seit 1898 mit dem Fahrrad.
In Cuxhaven ist die Telegraphenstation anfangs noch provisorisch im Seebadehaus in der Nähe des Schiffsanlegers "Alte Liebe" untergebracht. Erst 1854 können im Lotsenwachthaus zwei beheizbare Zimmer mit freier Sicht auf die Elbmündung angemietet werden. 1879 errichtet die Kaiserliche Post dort ein eigenes Telegraphenamt.
In Hamburg bleibt die Anlage über viele Jahre in der Börse, wo sie damals gegen Eintrittsgeld besichtigt werden kann. 1887 bezieht sie einen prunkvollen Neubau neben der Oberpostdirektion am Stephansplatz.
Die neue Technik ist auch ein ökonomischer Erfolg
Obwohl "telegraphische Depeschen" - der Begriff Telegramm setzt sich erst um 1865 durch - teuer sind, schreibt die Gesellschaft schwarze Zahlen. Eine Nachricht mit 16 Wörtern kostet drei Mark Courant, der Tageslohn eines Telegraphisten. Mit steigenden Benutzungszahlen sinkt der Preis später auf ein Viertel. Für das Jahresabonnement der Schiffsmeldungen sind 100 Mark Courant zu zahlen. Im Jahr 1852 werden für diesen Preis 9.597 ein- und auslaufende Segel- und Dampfschiffe von Cuxhaven nach Hamburg gemeldet. So berichtet es 1968 der damalige Vorsteher des Telegraphenamts, Detlev Kasten, in den "Postgeschichtlichen Blättern".
Gerke vereinfacht Morses Alphabet
Morses Zeichensystem erweist sich im täglichen Gebrauch allerdings als zu schwierig. Es gibt unterschiedliche Striche und Pausen, die auf dem Papier kaum zu unterscheiden sind. Deshalb sorgt Gerke 1849 für eine entscheidende Verbesserung. Sein System kennt nur noch drei Zeichen: Punkt, Strich und Pause. 1865 wird es als Internationales Telegraphenalphabet zum weltweiten Standard erhoben.
Der Siegeszug der Telekommunikation
Weil die Telegraphie Nachrichten innerhalb von Minuten transportiert, ist sie nicht nur für Kaufleute interessant. Zeitungen werden aktueller, bringen nun Nachrichten aus entfernten Weltgegenden. Regierungen, das Militär, aber auch Privatleute profitieren zunehmend von der neuen Technik. Bald umspannt ein Netz von Telegraphenlinien den Globus. Auch deutsche Firmen wie Siemens & Halske in Berlin bauen jetzt Morseapparate.
Weitere Entwicklung ist voller Erfindungen
1866 übernimmt der Stadtstaat die Telegraphengesellschaft, zwei Jahre später wird sie zu einer Telegraphenstation des Norddeutschen Bundes erhoben, deren Leitung Gerke erhält, 1876 zum Kaiserlichen Telegraphenamt. Über die Jahrzehnte erweitern immer neue Erfindungen die Kommunikation über weite Entfernungen. Schon in den Jahren um 1900 sind Morsezeichen hörbar, gibt es Farb-, Funk- und Bildtelegraphie. Überall werden jetzt Telefonnetze ausgebaut. Bald folgen Fernschreiber, später Faxgeräte. Zuletzt machen SMS und E-Mails Telegramme, die längst nicht mehr gemorst, sondern per Fernschreiber übermittelt werden, vollends überflüssig. Am 31. Dezember 2022 stellt die Deutsche Post ihren Telegrammdienst endgültig ein.