Hamburgs kurzer Traum von der Großrohrpost
Mit dem ersten Spatenstich für Hamburgs Großrohrpost am 13. September 1960 beginnt der Bau einer weltweit einmaligen Anlage. Doch schon 1976 kommt das Aus. Einige Spuren zeugen noch heute von dem Projekt.
Wer aufmerksam durch die Hamburger Innenstadt spaziert, dem werden hier und da kleine gusseisernen Deckel auffallen, die in die Bürgersteige eingelassen sind - "Post" ist eingraviert. Eine unterirdische Post mitten in Hamburg? Die Deckel sind einige der wenigen noch sichtbaren Überbleibsel der Hamburger Großrohrpost. Was nur wenige Hamburger wissen: Unter dem Pflaster in der Innenstadt liegen noch immer Rohre, durch die die Bundespost ab 1962 "Briefbomben" von Postamt zu Postamt schickte. Am 13. September 1960 wurde der erste Spatenstich für das ehrgeizige Projekt gesetzt: In der Hansestadt wurde ein weltweit einzigartiges System erprobt, das später ursprünglich in allen Städten der Bundesrepublik mit mehr als 100.000 Einwohnern zum Einsatz kommen sollte. Aber es kam anders.
Die Hamburger Großrohrpost entstand aus der Not heraus. Die Bundespost rätselte, wie sie am Tag Hunderttausende Briefe in den Innenstädten transportieren sollte. "Die Enge der Straßen und die Verkehrsflut zwingen zu neuen Lösungen", urteilte Ende der 50er-Jahre das Bundespostministerium. "Für Hubschrauber und Tunnelbahnen fehlt meistens der Platz und eine 'Normal-Rohrpost' schafft zu wenig." Also kommt die Idee mit der Großrohrpost auf. Die erfahrene Hamburger Firma Carl August Schmidt & Söhne, die in den 20er-Jahren unter anderem eine Stadtrohrpost-Anlage in Buenos Aires errichtet hat, macht sich an die Entwicklung.
Rohrpost-Teststrecke geht 1962 an den Start
Am 13. September 1960 erfolgt der erste Spatenstich. Zwei Monate später werden die ersten Versuche auf einem Teilstück von rund 450 Metern durchgeführt. Offizieller Startschuss für die 1.800 Meter lange Versuchsstrecke ist am 8. Februar 1962. Bundespostminister Richard Stücklen drückt damals auf den "roten Knopf". Nun ist das Postamt 11 nahe des Rödingsmarktes unterirdisch mit dem Hauptpostamt am Hauptbahnhof verbunden. Auch die Tagesschau berichtet am Abend.
1962: Die Sturmflut beschädigt die Maschinen
Doch die Großrohrpost steht zunächst unter keinem guten Stern. Hamburgs Oberpostdirektor Georg Heck spricht von einem "unendlich und äußerst schwierigen Bau der Strecke". Mal steht ein Bunker-Rest oder ein Bahndamm im Weg, mal ergießt sich der stinkende Inhalt eines alten Abwasser-Siels in die Baugrube. Und nur neun Tage nach dem offiziellen Start im Frühjahr 1962 bricht die verheerende Sturmflut über die Stadt herein - und richtet auch an der Großrohrpost-Anlage schwere Schäden an. An der Endstation im Postamt 11 stehen die Kellerräume mit allen Maschinen zwei Meter unter Wasser. Die Fahrrohre unter der Erde laufen jedoch nicht voll. "Ein kaum fassbares Glück", hält Heck fest. Und doch dauert es ein halbes Jahr, bis die Anlage nach der Sturmflut-Katastrophe wieder funktioniert.
Langbüchse ermöglicht Transport von 600.000 Briefen pro Stunde
Immerhin: Technisch gibt es keine bösen Überraschungen. Alles läuft wie berechnet. Die Euphorie ist groß. Heck schwärmt in der Anfangszeit von den "fast phantastisch anmutenden guten Fahrergebnissen". So werden schon bald doppelt so lange Transportbüchsen auf die Reise geschickt. Bis zu 600.000 Briefe können nun theoretisch pro Stunde von Postamt zu Postamt geschickt werden. Auch im Ausland verfolgen Post-Experten das weltweit einmalige Projekt. Aus Israel, den USA, Südkorea, Kanada und der Sowjetunion reisen Gäste an.
Rohrpost viel schneller als die Postfahrzeuge
Anfangs gibt es nur ein Fahrrohr, durch das die Briefe hin- und hergeschickt werden. Vom Postamt 11 aus werden die Briefbüchsen per Druckluft durch die Rohre gejagt, in Gegenrichtung werden sie angesaugt. Die maximale Geschwindigkeit beträgt 58 Kilometer pro Stunde. Zweieinhalb Minuten dauert eine Fahrt. Ein Postfahrzeug brauchte für dieselbe Strecke in den Verkehrsstoßzeiten mitunter mehr als 20 Minuten.
49 Kilometer Streckennetz sollen es werden
Im Oktober 1965 wird auch die Gegenlinie in Betrieb genommen. Die Büchsen können nun im Ringverkehr versandt werden. Die beiden Strecken umfassen jetzt zusammen 4.000 Meter. Ab dem 1. Dezember 1965 wird endlich auch echte Post mit der Großrohrpost verschickt. Die weiteren Planungen sehen vor, das Netz auf 15, dann auf mehr als 49 Kilometer auszubauen - unter anderem, um den Flughafen mit der Luftpost anzubinden. Auch Postämter in Wilhelmsburg und Harburg sollen in den Genuss der Großrohrpost kommen.
Störungen und hohe Kosten läuten das Ende ein
Aber die Bundespost scheut sich, weiteres Geld in die Großrohrpost zu stecken. Die Betriebskosten sind hoch - zu hoch. Schon 1968 hat Oberpostdirektor Heck einräumen müssen, dass die Kosten "gegenüber dem bestehenden Verkehr mit den Kfz noch immer etwa doppelt so hoch" sind. Hinzu kommt, dass die Anlage im Laufe der Jahre immer störanfälliger wird. Immer wieder bleiben Büchsen in den Fahrrohren stecken.
Der Hamburger Autor Ulrich Alexis Christiansen hat jahrelang die Geschichte von Hamburgs Untergrund erforscht - auch die der Großrohrpost. Dass die Rohre mit der Zeit immer anfälliger werden, liegt seiner Ansicht nach an den Erschütterungen durch den Straßenverkehr und die vielen Baustellen der damaligen Zeit. Die Rohre liegen oft nur knapp unter der Oberfläche, werden bei Leitungsarbeiten und U-Bahn-Bau freigelegt und zum Teil auch beschädigt. Auch ein anderer Punkt spricht gegen die Großrohrpost: Das Briefaufkommen ist längst nicht so stark gestiegen wie erwartet.
Mit den Hamburger Unterwelten auf Großrohrpost-Tour
Die Pläne für den Ausbau liegen einige Jahre lang auf Eis, 1976 kommt dann das endgültige Aus. Die Maschinen in den Postämtern werden restlos abgebaut und die Rohre mit Erde gefüllt. An einer Stelle allerdings sind noch Rohre der Großrohrpost zu sehen: unter der Graskellerbrücke in der Nähe des Rödingsmarkts. Dort hatte die Bundespost für den geplanten Weiterbau bereits Mantelrohre verlegen lassen, später sollten dort die Fahrrohre eingelassen werden - wurden aber nie verwendet. An dieser Stelle kommt vorbei, wer mit dem Verein Hamburger Unterwelten e.V.auf Erkundungstour geht: Auf geführten Stadtspaziergängen teilen die Vereinsmitglieder ihr üppiges Wissen rund um die Geschichte der Großrohrpost und veranschaulichen die einstige Moderne anhand zahlreicher Relikte und historischer Fotos.