Rungholt und der Mythos über Nordfrieslands "Atlantis der Nordsee"
Der Ort soll reich wie Rom, sein Untergang bei einer Sturmflut 1362 eine Strafe Gottes gewesen sein. Viele Mythen ranken um das nordfriesische Rungholt. Erst vor Kurzem haben Wissenschaftler herausgefunden, wo der versunkene Ort liegt.
Unheil braut sich am 16. Januar 1362 an Nordfrieslands Nordseeküste zusammen. Ein Orkan drückt die Wassermassen an die Holzdeiche. Sie brechen und die Insel Nordstrand zerreißt. Tausende Menschen sterben in den eisigen Fluten, ganze Dörfer werden ausradiert. Einer der Orte, der bei der sogenannten Großen Mandränke versinkt, ist Rungholt. Um das "Atlantis der Nordsee" ranken sich bis heute unzählige Mythen.
Untergang bei Sturmflut: Strafe Gottes für Saufbolde?
Der Ort soll reich wie Rom, der Untergang eine Strafe Gottes gewesen sein. In einer Legende aus dem 16. Jahrhundert heißt es, Bauern in einem Wirtshaus hätten eine Sau betrunken gemacht und ins Bett gelegt. Sie riefen den Prediger, um dem "Kranken" die letzte Salbung zu reichen. Als der Prediger den Betrug erkannte, wollte er sich davonmachen. Doch er wurde festgehalten, zum Mittrinken gezwungen und verhöhnt. Die Abendmahl-Utensilien wurden mit Bier beschüttet. Daraufhin ging der Prediger in die Kirche und bat Gott, die gottlosen Saufbolde zu strafen. Kurz darauf zog ein heftiger Sturm auf und Rungholt ging unter.
Sage als Inspiration für Dichter und Schriftsteller
Der Dichter Detlev von Liliencron lässt sich von dieser Sage inspirieren. In seiner Ballade "Trutz, Blanke Hans" von 1882 heißt es: "Ein einziger Schrei - die Stadt ist versunken, und Hunderttausende sind ertrunken. Wo gestern noch Lärm und lustiger Tisch, schwamm andern Tags der stumme Fisch. Heut bin ich über Rungholt gefahren, die Stadt ging unter vor fünfhundert Jahren." Auch Theodor Storm erwähnt in seiner Novelle "Eine Halligfahrt" den untergegangenen Ort Rungholt. Noch heute erzählen sich die Leute an der Küste, dass man bei ruhigem Wetter die Glocken von Rungholts Kirche im Watt läuten hören könne.
Funde im Watt und Urkunden belegen Rungholts Existenz
Sind die Geschichten um Rungholt reine Fantasie? Nein, es ist sicher, dass Rungholt existiert hat. Das belegen Urkunden und Schriftstücke. Archäologen gehen davon aus, dass Rungholt ein für damalige Verhältnisse bedeutender Ort mit einem Hafen war. Im Watt sind Reste einer Schleuse gefunden worden. Vermutet wird, dass die Bewohner Salz bis ins Rheinland und nach Flandern exportiert haben. Auch hätten die Rungholter wahrscheinlich mit Wolle und Bernstein gehandelt.
Nordstrander entdeckt ab 1921 Kulturspuren
Lange Zeit ist der genaue Standort von Rungholt nicht sicher geklärt, denn verlässliche Aufzeichnungen fehlen. Hinzu kommt, dass sich das Wattenmeer - heutiges UNESCO-Welterbe - durch die Gezeiten ständig verändert. Zweimal täglich wird das Gebiet überflutet, so wird Material weg- und wieder angespült.
Ab 1921 entdeckt der gebürtige Nordstrander Andreas Busch sogenannte Kulturspuren im Watt: Pfähle einer Schleuse, Brunnen, Gräben und Reste von Warften. Busch, Landwirt von Beruf und kein studierter Wissenschaftler, befasst sich mit geologischen, wetterkundlichen, hydrografischen Fragestellungen, um seine Erkenntnisse richtig zu dokumentieren. Auch Statistiken über Sturmfluten, historische Kartografie und Planung und Ausführungen von Deichen und Sielen zieht er heran. Busch schätzt aufgrund seiner Funde, dass die Zahl der Einwohner bei 1.500 bis 2.000 gelegen habe. Er vermutet, dass das untergegangene Rungholt südlich der Hallig Südfall liegen muss.
Wissenschaftler Duerr findet angeblich Schiffswrack
Der Ethnologe und Buchautor Hans-Peter Duerr hingegen glaubt, dass Rungholt im Norden der Hallig Südfall gelegen hat. Er stützt sich unter anderem auf eine Karte von Johannes Mejer von 1652, die rund 200 Jahre nach dem Untergang von Rungholt entstand. Dort ist das Kirchspiel nördlich von Südfall verzeichnet. Ab 1994 unternimmt Duerr als Professor an der Universität Bremen zahlreiche Exkursionen mit seinen Studenten ins Watt. Sie finden Keramik, Münzen, Schmucksteine und nach eigenen Angaben das Wrack eines Schiffes von der Insel Kreta. Er fühlt sich in seiner Vermutung über die Lage Rungholts bestätigt. Mehr noch - er glaubt, dass Rungholt bereits in der Antike ein Handelszentrum gewesen ist. Waren Seefahrer von Kreta bereits vor über 3.000 Jahren in der Nordsee unterwegs, um Bernstein zu erwerben?
Über diese Thesen gibt es viele Jahre lang Streit. Die Wissenschaftler des archäologischen Landesamts in Schleswig sind skeptisch: Duerrs Funde halten die Experten für unspektakulär. Die Überreste des Schiffes hätten sie nicht zu Gesicht bekommen. Duerr hingegen behauptet, einen Lageplan mit spektakulären Funden, die im Watt verblieben sind, an das Landesamt übergeben zu haben. Das wiederum kann den Besitz der Karte nicht bestätigen.
Standort der Rungholter Kirche entdeckt
Erst im Mai 2023 kommt wieder Bewegung in die Debatte um den Standort von Rungholt. Und zwar richtig: Ein Forscher-Team gibt bekannt, dass es bei der Hallig Südfall eine bislang unbekannte, zwei Kilometer lange Kette mit Siedlungshügeln entdeckt habe. Einer dieser Hügel zeige Strukturen, die zweifelsfrei als Fundamente einer Kirche zu deuten seien, so die Experten. Etwa 600 Quadratmeter groß soll die Grundfläche der alten Kirche sein.
Die mittelalterlichen Siedlungshügel, auch Warften genannt, seien anhand von geophysikalische Arbeiten entdeckt worden. 54 solcher Warften hätten sie bereits gefunden - doch die Kirche sei speziell. "Die Besonderheit des Fundes liegt in der Bedeutung der Kirche als Mittelpunkt eines Siedlungsgefüges", sagt Ruth Blankenfeldt vom Zentrum für Baltische und Skandinavische Archäologie, das wie das Archäologische Landesamt, die Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und die Johannes Gutenberg-Universität Mainz an den Forschungen beteiligt ist.
Forscher halten genauen Ort noch geheim
Die Forschenden finden den Angaben zufolge außerdem systematische Entwässerungssysteme, einen Seedeich mit Sielhafen und zwei kleinere Kirchen oder Kapellen. Somit müsse das gefundene Siedlungsgebiet als einer der überlieferten Hauptorte des mittelalterlichen Verwaltungsbezirkes Edomsharde - heute etwa das Gebiet der Halbinsel Nordstrand - angesehen werden.
Den genauen Fundort halten die Experten zunächst noch geheim. Nach der Analyse von gefundenen Steinen wollen sie mit neuen Grabungen im Watt noch mehr über den Mythos Rungholt herausfinden und dann eine mehr als 100 Jahre alte Forschungsfrage endgültig beantworten.