Warum faszinieren uns die versunkenen Welten in Nord- und Ostsee?
Im Mai wurde bei Hallig Südfall eine bislang unbekannte, zwei Kilometer lange Kette mittelalterlicher Warften, also künstlicher Siedlungshügel, erfasst, die zu dem versunkenen Ort Rungholt gehören sollen.
Auch Spuren der Kirche von Rungholt wurden entdeckt. 1362 soll Rungholt bei einer Sturmflut untergegangen sein. Die Forscherin Ruth Blankenfeldt war an dieser Entdeckung beteiligt.
Frau Blankenfeldt, warum fasziniert Menschen das Versunkene so sehr?
Ruth Blankenfeldt: Es ist bestimmt das Drama, was da eine Rolle spielt. Wir Menschen lieben einfach Geschichten. Das war schon immer so, Geschichten faszinieren. In dem Fall gibt es die mythische Verklärung eines reichen Handelsplatzes, in dem ein bisschen Exotik herrschte - wahrscheinlich durch fremde Menschen, die da ankamen und verhandelten. Dann heißt es auch, dass die Leute etwas gotteslästerlich gewesen sind, dass sie den Naturgewalten und auch Gott trotzen wollten und zur Strafe ganz brutal in einer Nacht im Januar alle mit Mann und Maus untergegangen sind. Viele tausend Menschen sind wahrscheinlich gestorben, das Vieh ist ertrunken, die Häuser wurden weggespült, die Landschaft war danach unbewohnbar. Das alles hat den Stoff für eine richtig gute Geschichte.
Sie sprechen den Mythos Rungholt an. Wie sind Sie an der aktuellen Forschung beteiligt? Was haben Sie da schon alles entdeckt?
Blankenfeldt: Wir haben zum einen den Job, dass wir vorher nach Quellen suchen: Was ist überliefert worden? Was kennen wir? Was haben wir schon für Gegenstände, die in der Gegend zutage gekommen sind? Es gibt ganz in der Nähe von diesem Ort, wo wir die neue Warftenkette haben, einen Gezeitenpriel, der jeden Tag Strukturen auf- und abdeckt und wo man schon seit Jahren immer wieder absammelt. Dort wird unheimlich viel Keramik, Tierknochen und Dinge des alltäglichen Lebens freigespült. Wir haben zum Beispiel schon mehrere Schlittknochen gefunden, also eine Art Kufen aus alten Knochen, die man sich im Winter unter die Schuhe geschnallt hat. Inzwischen ist auch viel mit ehrenamtlichen Detektor-Gängern viel gemacht worden, sodass man auch metallene Gegenstände gefunden hat. Ich bin unheimlich gern im Feld und meine Herzensangelegenheit ist das Ausgraben. Das ist natürlich im Watt etwas schwieriger und etwas anders als bei normaler Landesarchäologie.
Sie haben da auch schon Pferdeköpfe entdeckt, habe ich gelesen.
Blankenfeldt: Ja. Ich habe mal an einem Tag in diesem Priel drei Pferdeköpfe gefunden und habe sie alle sieben Kilometer bis zur Einstiegsstelle in Nordstrand zurückgetragen. Die sind dann in Schleswig in Schloss Gottorf in einer Arbeitsgruppe für Archäologie und Zoologie angenommen worden. Das sind wahrscheinlich Tiere, die ebenfalls bei dieser katastrophalen Flut untergegangen und ertrunken sind.
Neben Rungholt gibt es viele Orte in der Ostsee oder anderswo - Vineta vor Usedom zum Beispiel -, deren Existenz erst erforscht wird. Glauben Sie, dass es noch viel mehr versunkene Orte gibt, als wir das bisher wissen?
Blankenfeldt: Das glaube ich auf jeden Fall. Das ist sowohl das Watt als auch subaquatische Gebiete. Sachen, die ständig unter Wasser liegen, sind ja viel sperriger zu erforschen, als es bei der Landesarchäologie ist - und die ist schon herausfordernd genug. Ich denke da zum Beispiel an Kap Arkona auf Rügen. Da werden wir mit Sicherheit noch ganz schöne Überraschungen erleben. Das Tolle ist, wenn wir den Dingen auch einen Namen geben können, wenn wir Wracks finden und sie mit einem Ereignis verbinden können. Wir wissen auch nicht hundertprozentig, ob wir in "dem" Rungholt unterwegs sind. Es gab ein Rungholt, aber es gab weitere Gemeinden drumherum. Wir benutzen Rungholt auch als Synonym für diese komplette Kulturlandschaft, die um Südfall von uns erforscht wird und die untergegangen ist.
Ich kann mir vorstellen, dass es ein besonderes Arbeiten ist, wenn man bei seinem Job auch immer mit Legenden zu tun hat, oder? Also nackte Wissenschaft gegen überlieferte Geschichten.
Blankenfeldt: Ja, das ist schön. Ich bin von Haus aus gar kein Mittelalterarchäologe, sondern habe mich viel mit der Zeit nach null in Nordeuropa mit Opferplätzen der Germanen beschäftigt. Da ist es viel mühsamer, die Geschichte rauszulocken - und das ist das, was mich packt. Es ist nicht nur der Gegenstand und wie ihr hergestellt ist - obwohl das auch schon toll ist. Aber wenn wir es dann schaffen, das Ganze mit Leben und mit einem Menschen, mit einer Gemeinschaft zusammenzubringen, ist es das Beste, was uns passieren kann.
So ist es mit Rungholt natürlich auch. Ich mag dieses Gedicht von Liliencron unheimlich gerne, was diesen Mythos auch begründet hat, und stelle mir gerne vor, wie es dort ausgesehen hat. Waren das wirklich diese reichen Menschen, die da umhergingen, so wie er es zum Beispiel schildert? Er sagt zum Beispiel: "Die Sänften tragen Syrer und Mohren, mit Goldblech und Flitter in Nasen und Ohren." Das ist natürlich übertrieben, aber das ist ein Synonym dafür, dass da ein bisschen Exotik war. Wie haben die Menschen überhaupt gewohnt? Wir sind in diesem fantastischen Naturraum unterwegs, jeder Tag ist anders, aber es ist eben auch anstrengend., und es muss für die damaligen Menschen auch sehr anstrengend gewesen sein. Man hatte noch keine Funktionskleidung, keine hochwertigen Gummistiefel oder Kleispaten, sondern man musste sehr mühsam dieses Land kultivieren. Dafür muss es auch Gründe gegeben haben. Anscheinend hat man es geschafft, sich gut zu arrangieren, zumindest vor den Fluten, und dort ein gutes Leben zu führen.
Das Interview führte Eva Schramm.