"Programm Nord": Die große Wende für Schleswig-Holstein
Straßen, Wasser und Strom: Mit dem "Programm Nord" - dem seinerzeit größten regionalen Entwicklungsprogramm der Bundesrepublik - begann vor 70 Jahren ein Prozess, der das Leben im Norden und an der Westküste Schleswig-Holsteins revolutionierte.
Das mit dem entsprechenden Regierungsbeschluss am 24. Februar 1953 gestartete "Programm Nord" hat das Bild der Landschaft im Norden Schleswig-Holsteins umfassend gewandelt. Es machte ein neues Leben und Wirtschaften in einer strukturarmen Region möglich. Ziel war es, in der Grenzregion Lebensverhältnisse zu schaffen, die mit denen im restlichen Bundesgebiet vergleichbar waren.
Es begann eine Aufholjagd um das Nord-Süd-Gefälle im neuen Bundesland Schleswig-Holstein. Das gelang nicht gänzlich, doch für die Menschen in den Landesteilen Schleswig und Dithmarschen begann eine neue Zeit. Nach 25 Jahren war das "Programm Nord" eigentlich abgearbeitet - wurde von der Politik aber nicht beendet. Besonders im Norden war es bei den Bewohnern derart positiv besetzt, das 1983 auch noch der 30. Geburtstag von der CDU-Regierung gefeiert wurde. Nicht unklug. Ohne die Pläne und Investitionen von am Ende 1,6 Milliarden D-Mark wäre der Landstrich heute vermutlich eine lebensfeindliche Sand- und Wassersteppe.
Die Not des Nordens nach dem Zweiten Weltkrieg
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war es um den Norden Schleswig-Holsteins denkbar schlecht bestellt. Die Betriebe waren für eine moderne Landwirtschaft zu klein. Weiden und Äcker einer Familie lagen oft weit verstreut, die Höfe hingegen beengt in den Dörfern - und oft nur durch wenige befestigte Straßen miteinander verbunden. Aus der Marsch und den Niederungen floss das Wasser schlecht ab.
Auf der Geest waren große Flächen ungeschützt der Erosion ausgesetzt, weil seit dem Mittelalter der Wald als Windschutz fehlte. Jeder stärkere Sturm transportierte Tonnen von Sand über das Land.
Ausgangslage auch politisch brisant
Die damalige Landesregierung unter Friedrich Wilhelm Lübke brachte das "Programm Nord" nicht nur wegen der wirtschaftlichen Not in Gang. Es gab auch historische und handfeste politische Gründe. Vom Aufschwung der Industrialisierungsphase zum Ende des 19. Jahrhunderts war im Norden nur wenig angekommen. Mit der deutsch-dänischen Grenze von 1920 wurde das ehemalige Herzogtum Schleswig - und damit viele Strukturen. Dem Landesteil Schleswig ging es wirtschaftlich schon schlecht, als nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zusätzlich Hunderttausende Flüchtlinge aufgenommen werden mussten.
"Neudänische Bewegung" will ein Dänemark bis zur Eider
Über Nacht explodierte nun die Zahl der Mitglieder der dänischen Minderheiten-Organisationen. Zählte die sogenannte Neudänische Bewegung im Mai 1945 etwa 2.700 Mitglieder, waren es Ende 1946 schon 62.000 Menschen. Sie hoffte, der Landesteil Schleswig würde wieder ein Teil Dänemarks, die Flüchtlinge würden verwiesen und Butter und Wohlstand kämen zurück.
MP Lübke bringt "Programm Nord" auf den Weg
Der Drang im Norden für einen Anschluss an Dänemark wurde durchaus ernst genommen - obwohl er keine Mehrheiten bekommen hätte und das Königreich mit Kriegsende eindeutig erklärt hatte: "Danmarks Grᴂnser ligger fast." Die dänischen Grenzen liegen fest. Dennoch bereitete die Bewegung in Kiel wie auch in Bonn Bauchschmerzen. Als Ministerpräsident Friedrich Wilhelm Lübke am 24. Februar 1953 das "Programm Nord" auf den Weg brachte, sprach er offen darüber. Es sei auch das Ziel, Schleswig und Holstein als Bundesland zusammenzuhalten.
Felder, Höfe, Straßen, Strom: Der Norden wird aufgeräumt
Erster Punkt auf der Agenda war die größte Flurbereinigung, die es in der Bundesrepublik je gab. 65 Prozent der landwirtschaftlichen Flächen im Norden und in Dithmarschen - fast 500.000 Hektar - wurden neu geordnet. Es gab größere Felder und Weiden, die Flächen aus Streulagen um die Höfe wurden zusammengelegt. Viele Höfe wurden aus den Dörfern genommen und als sogenannte Aussiedlerhöfe mitten im eigenen Land neu erbaut. Arbeiter legten 9.000 Kilometer neue Straßen an, Feldwege kamen hinzu. Strom und Trinkwasser bis in den letzten Landeswinkel vollendeten die Infrastruktur-Revolution in der Marsch und auf der Geest. Möglich wurde das alles, weil der Bund Zuschüsse in erheblichem Maße gab und die Gemeinde- und Kreisgrenzen das Zusammenlegen und Ausgleichen der Landflächen qua Gesetz nicht behindern durften.
Das Wasser muss aus der Marsch
Neben den katastrophalen Straßenverhältnissen litten vor allem die überaus fruchtbaren Marschgebiete darunter, dass sie schlecht entwässert waren. Dass die Marsch "blank" war - also unter Wasser stand -, das war an der Westküste von November bis März normal. Wasser raus und Straßen rein - so lautete die Formel des "Programms Nord" für die Marsch. Gräben wurden begradigt und vertieft, die Äcker durch Drainagen früher im Jahr befahrbar, Siele in den Deichen durch leistungsfähige Schöpfwerke ersetzt.
Eine Landschaft ändert ihr Gesicht
Das "Programm Nord" hat das Bild der Landschaft im Norden umfassend geändert. Am auffälligsten ist das bis heute auf der Geest. Das Wort Geest kommt aus dem Friesischen und steht für trocken und unfruchtbar. Nach dem Krieg war das Land weitgehend schutzlos dem Wind ausgesetzt. Gewaltige Mengen von Sand, wahre Wanderdünen, zogen über das Land.
In Joldelund auf der nordfriesischen Geest und in Gudendorf in Dithmarschen startete nun ein gewaltiger Umbau des Geländes. Als Windschutz wurden knapp 10.000 Kilometer Knicks entlang der nun großen Flurstücke gepflanzt. Dazwischen 4.500 Hektar Wald angelegt, ebenfalls als Blocker für den Wind. Damit war der Sandflug gebremst, der Boden blieb aber karg. Um eine wirtschaftliche Basis zu schaffen, entwickelte das Grünlandinstitut in Bredstedt neue Saaten für Gras und neue Futterverfahren. Alles zusammen machte es möglich, dass Höfe auf der Geest von der Milchwirtschaft leben konnten.
Schleswig wieder "in Kultur bringen"
Ziel des größten regionalen Entwicklungsprogramms der Bundesrepublik war es am Anfang, den Landesteil Schleswig wieder "in Kultur zu bringen" - wobei Kultur in diesem Zusammenhang vor allem für Landwirtschaft steht. Früh zeigte sich jedoch, dass bäuerliche Landwirtschaft allein die Menschen nicht mehr ernähren kann. Mit den verbesserten Straßenverhältnissen und dem Komfort von Wasser und Strom gelang es jedoch, die Menschen auf dem flachen Land zu halten. Der Preis dafür war das Ende der Einheit von wohnen und arbeiten. Die Leute konnten nun im Dorf leben und in der Stadt arbeiten - sie wurden zu Pendlern. 1945 lag deren Anteil noch unter 20 Prozent, 1987 war es jeder zweite. Rund um die Zentren Flensburg, Schleswig und Husum betrug der Anteil sogar mehr als Dreiviertel der Erwerbstätigen.
Das Programm änderte sich stetig
Besonders nördlich der Eider war das "Programm Nord" für die Menschen eine Erfolgsgeschichte. Es hat die Region gerettet und war in der Rückschau ein echter historischer Wendepunkt. Auch wenn die Programm Nord GmbH bis 1995 bestand, waren die meisten der Ursprungsziele schon 1978 abgearbeitet. Bis dahin waren insgesamt 1,6 Milliarden D-Mark geflossen.
Nachhaltig wurde der Erfolg, weil sich das Programm in seinen ersten 25 Jahren stetig verändert hat. Erst eine reine Flurbereinigung, dann Infrastruktur, schließlich zentraler Strom sowie erst Wasserver- und schließlich auch noch -entsorgung. All das hat dazu geführt, dass eine ganze Region sich dem Ziel des Grundgesetzes von bundesweit vergleichbaren Lebensverhältnissen in großen Schritten angenähert hat.
Heute fordert der Naturschutz viel zurück
Doch der Wandel nimmt erneut Fahrt auf. Heute muss vieles hinterfragt werden, was im Rahmen des "Programms Nord" entstanden ist und lange als gut und richtig galt. Beim Windschutz etwa die Frage, ob es wirklich klug war, vor allem Nadelhölzer zu pflanzen. Vieles, was durch das Programm "in Kultur" gebracht worden ist, wird heute für den Naturschutz zurückgefordert. Die touristische Entwicklung ist so stark, dass sie mancherorts zum Problem wird. Und wer heute im Dorf leben und arbeiten will, braucht schnelles Internet. Der rasante Aufbau von Energie, Wind- und Biomasse verändert die Landschaft, gefährdet bisweilen die Natur und bringt Streit in viele Dörfer - möglicherweise Zeit für ein neues "Programm Nord". Eines, das in die Zeit passt und die Probleme von heute löst.