Als das Fernsehprogramm seine Ouvertüre bekam
Am Silvesterabend 1950 kündigt die 24-jährige Irene Koss im NWDR Versuchsfernsehen erstmals das Programm an - und wird so zur ersten Fernsehansagerin der Bundesrepublik. Ein neuer Berufsstand ist geboren.
Ein Gongschlag. Am 31. Dezember 1950 öffnen sich um 20 Uhr zwei Vorhänge zu den Seiten. In der Mitte steht eine junge Frau mit dunklen kurzen Haaren und trägt das zu erwartende Fernsehprogramm vor. Irene Koss könnte jeden ihrer Zuschauer persönlich begrüßen, denn mutmaßlich sind es an diesem Abend drei. "Das waren der Programmdirektor, ein TV-Kritiker und ein Mann von der Presse", erinnert sich Koss später in einem Interview. Was ihr erlesenes Publikum vor den schwarz-weiß flackernden Röhrenbildschirmen nicht sieht: "Wir saßen bei 40 Grad Hitze in einem winzigen Kabäuschen." Eine Kamera, ein paar Scheinwerfer, der Beleuchter, der Kameramann und Koss selbst haben in dem Studio gerade so Platz. Das Silvesterprogramm 1950 überträgt der Nordwestdeutsche Rundfunk als Vorläufer des "Ersten Programms" aus einem Hochbunker auf dem Heiligengeistfeld im Stadtteil St. Pauli.
Dutzende Bewerberinnen: Koss überzeugt mit Erich Kästner
Seit einem Monat sendet die Rundfunkanstalt ein regelmäßiges Versuchsprogramm: montags, mittwochs und freitags von 20 bis 22 Uhr. Dafür sucht der NWDR wenige Wochen zuvor Ansagerinnen, die technisch bedingte Umschaltpausen überbrücken sollen. Als die 24-jährige Schauspielerin Koss von ihrem Theateragenten auf das Vorsprechen hingewiesen wird, fragt sie sich: "Fernsehen - gibt es das in Deutschland überhaupt schon?" Einen Tag später lernt sie seine Kinderstube kennen. Die gebürtige Hamburgerin überzeugt Oberspielleiter Hanns Farenburg unter Dutzenden Bewerberinnen als "Pony Hütchen", einer Figur aus Erich Kästners "Emil und die Detektive".
Ansagerinnen verdienen 20 Mark pro Abend
Zwei Jahre läuft der Versuchsbetrieb, in dem sich Koss bei den Programmansagen mit ihrer Kollegin, der Schauspielerin Angelika Feldmann, abwechselt. "Sie sagte die leichteren Unterhaltungssendungen an, ich die ernsteren Sachen wie Opern und Schauspiel", sagt Koss später über ihre Rollenverteilung. 20 Mark verdienen sie am Abend. Ihre Garderobe leihen sie sich in Boutiquen aus. Kleider, die nicht passen, heften sie auf dem Rücken mit Wäscheklammern zusammen. Auch wenn das Budget klein und die Möglichkeiten begrenzt sind, ist die Pionierzeit so aufregend, "dass wir selbst dann im Studio blieben, wenn wir nichts zu tun hatten". Wie sich Koss in dieser Zeit entwickelt, berichtet Spielleiter Farenburg Anfang 1952 dem Magazin "Der Spiegel": "Man braucht ein halbes Jahr, bis man endgültig sagen kann, ob es jemand vor der Fernsehkamera schafft. Die Koss war erst ganz steif und stur, aber für sie sprach ihre Jugend und ihr Charme. Sie war an sich photogen, und heute hat sie auch die Sicherheit, die man braucht."
Weihnachten 1952: "Damen ohne Unterleib" ziehen in Wohnstuben ein
Mit dem offiziellen Sendestart des NWDR am 25. Dezember 1952 - der zeitgleich der Sendebeginn der ARD ist - wird Koss zum Gesicht des deutschen Fernsehens. Wie viele Menschen an diesem Abend in die Röhre gucken, ist nicht mehr zu rekonstruieren. Die Empfänger kosten mehr als 1.000 Mark und stehen bundesweit in mehreren Hundert bis Tausend Wohn- und Gaststuben. Nachdem Irene Koss das Eröffnungsprogramm - ein Fernsehspiel um die Entstehung des Lieds "Stille Nacht, heilige Nacht" und ein Opernballett - ansagt, berichtet die Presse fast täglich über sie und Feldmann. Die "Damen ohne Unterleib", wie die Ansagerinnen wegen des Bildausschnitts vom Scheitel bis zum Bauch genannt werden, werden zu den "Visitenkarten" des Fernsehens.
Koss: "Ich gehörte quasi zur Familie"
Jedes Detail ist in westdeutschen Haushalten Gesprächsthema - die Frisur, der Versprecher, die zu tief ausgeschnittene Bluse. Zuschauer schicken so viele Briefe, dass sie Wäschekörbe füllen. "Das war schön, aber auch anstrengend", so Koss später. "Da ich quasi zur Familie gehörte, wurde jede noch so kleine Veränderung kritisch kommentiert." Auch Heiratsanträge erreichen die Ansagerin: "Es kamen beispielsweise Briefe 'Ich hab zwei Kinder, aber keine Mutter mehr für die Kinder. Wollen Sie nicht die Mutter der Kinder werden?'"
Der Kult um die Ansagerinnen bekommt mit der Gründung weiterer Landesfunkhäuser und neuen Kolleginnen noch Auftrieb. Auch sie werden zu Aushängeschildern ihrer Sender. Während Hilde Nocker vom Hessischen Rundfunk den Spitznamen "Telemieze" bekommt, verkörpert Dagmar Bergmeister beim Süddeutschen Rundfunk für manch einen das "Reh des Fernsehens". Noch 1959 laufen beim NDR die Telefone heiß und die "Hamburger Morgenpost" ruft ihre Leser zur Abstimmung auf, weil Koss einen neuen Haarschnitt hat.
Kinder und Kabarett - das Leben nach dem Fernsehen
1962 verlässt Koss, die inzwischen Kinderbücher schreibt und beim NDR angestellt ist, das Fernsehen. Nachdem sie als Co-Moderatorin bei der Auftaktsendung zur Fernsehlotterie "Ein Platz an der Sonne" Sportreporter Sammy Drechsel kennenlernt, zieht sie zu ihm nach München. Sie kümmert sich um die gemeinsamen Töchter und hilft ihrem Mann beim Aufbau des Kabaretts "Lach- und Schießgesellschaft". Angelika Feldmann kehrt bereits Ende der 1950er-Jahre in ihren früheren Beruf als Schauspielerin zurück und arbeitet an Theatern und in Fernsehproduktionen.
Dénes Törzs beendet Ära der Programmansager
Die persönlich-menschelnde Ansage bleibt lange fester Bestandteil des deutschen Fernsehens. Auch die ab 1984 gegründeten Privatsender wie Sat1 und RTL setzen in den ersten Jahren darauf. In den 1990er-Jahren verschwinden die Ansagerinnen und Ansager zunehmend von den Bildschirmen. Zunächst verzichten private Sender zugunsten von Werbezeit auf deren Einsatz, später auch die öffentlich-rechtlichen. Stattdessen weisen Trailer auf Serien, Sendungen und Filme hin. Der letzte seiner Zunft - und unter anderem wegen seiner Vorliebe für Pullover in Erinnerung - ist Dénes Törzs. Im Jahr 2004 beendet er mit 70 Jahren seine Karriere als Programmansager, wie Irene Koss die ihre begann: mit einer Ansage für das Silvester-Programm. Heute sind nur noch gelegentlich Ansager in Spartensendern zu sehen, die auf das Programm hinweisen.
Pannen und menscheln: Charme der frühen Jahre
Irene Koss erlebt das Ende des Berufsstands, den sie in der jungen Bundesrepublik mit begründet hat, nicht mehr. Sie stirbt 1996 nach langer Krankheit in ihrer Wahlheimat München. Einige Jahre zuvor blickt sie im NDR Interview ein wenig wehmütig auf die Anfänge des Fernsehens zurück. "Jeder Patzer kam mit rüber. Einmal rutschte während der Ansage die Kamera auf meine Beine. Eben noch sahen die Zuschauer eine festlich dekolletierte Bluse, und schon kamen gestrickte, karierte Wollstrümpfe und dicke Kreppsohlen ins Bild." Die Pannen, das Menschliche: "Das war lebendig."