Gebeugte Wahrheit: Engholms Rücktritt nach der Barschel-Affäre
Am 3. Mai 1993 tritt Björn Engholm als Ministerpräsident von Schleswig-Holstein und SPD-Vorsitzender zurück. Eine Lüge vor dem Untersuchungsausschuss zur Aufklärung der Barschel-Affäre 1987 brachte ihn zu Fall.
"Als Anti-Barschel wollte Engholm mit der Distanz zur Politik Politik machen, wollte in die Geschichtsbücher eingehen als der Staatsmann, der Mensch geblieben ist. Nun ist er nur noch Mensch." Auszug aus dem "Spiegel" vom 10. Mai 1993
So urteilt das Nachrichtenmagazin "Spiegel" eine Woche, nachdem der SPD-Politiker Björn Engholm als schleswig-holsteinischer Ministerpräsident sowie als SPD-Vorsitzender und Kanzlerkandidat zurückgetreten ist. Das Zitat spiegelt wider, wie die meisten Medien auf den Rücktritt des sozialdemokratischen Hoffnungsträgers reagieren: Sie kritisieren den Politiker wegen seiner offensichtlichen Lüge, zollen aber gleichzeitig dem Menschen Engholm Respekt.
Schmutz unter der weißen Weste
Wieso muss der Mann, der lange Zeit als einer der wenigen deutschen Spitzenpolitiker mit weißer Weste gilt, plötzlich zurücktreten? Engholm stolpert über eine falsche Aussage vor dem Barschel-Untersuchungsausschuss aus dem Jahr 1987. Dort hatte er wahrheitswidrig versichert, nichts von Bespitzelungen und Manipulationsversuchen im Wahlkampf gegen ihn selbst gewusst zu haben - vom damaligen CDU-Ministerpräsidenten Uwe Barschel gedultet bis hin zu beauftragt. Im März 1993 kommt eine Kette von Ereignissen und Geständnissen ins Rollen, die den Kieler Landeschef in Bedrängnis bringen. Sein Partei-Vertrauter Klaus Nilius gibt zu, vor dem Untersuchungsausschuss 1987 nicht die Wahrheit gesagt zu haben. Der "Stern" berichtet von Zahlungen aus den Reihen der SPD an den ehemaligen Barschel-Berater Reiner Pfeiffer. Sozialminister Günther Jansen gibt daraufhin zu, etwa 50.000 D-Mark an Pfeiffer gezahlt zu haben und muss am 23. März seinen Posten räumen.
Die sogenannte Schubladenaffäre wirft erneut die Frage auf, was die Nord-SPD und vor allem Engholm über Reiner Pfeiffers Aktivitäten wussten. Zudem keimt ein neuer Verdacht auf: War das Geld aus Jansens Schublade Schweigegeld? Agierte Pfeiffer als Doppelagent von CDU einerseits und SPD andererseits?
Existenzielle Grenzsituation
Am 3. Mai 1993 tritt Engholm in Bonn vor die Presse. Nun ist klar, dass er spätestens am 7. September 1987, also bereits eine Woche vor der Wahl in Schleswig-Holstein, von Barschels unlauteren Machenschaften gewusst hat. In seiner Rücktrittserklärung spricht der Familienvater von einer existenziellen Grenzsituation, in der er sich vor der Landtagswahl 1987 befunden habe. Er pocht auf das Recht auf Privatheit und bemängelt Angriffe auf seine Integrität und die seiner Familie. "Der gegenwärtige Versuch, die SPD durch pauschale Verdächtigungen in Misskredit zu bringen, gar zum Mittäter der damaligen Machenschaften zu stempeln, ist abwegig. Damit wird das Ziel verfolgt, den notwendigen Regierungswechsel in Bonn zu verhindern. Das darf nicht gelingen."
Weiter erklärt der 53-Jährige: "Wegen dieses Vorgangs ist meine politische Glaubwürdigkeit in Frage gestellt worden, auf die viele Menschen in Schleswig-Holstein, in der ganzen Bundesrepublik und insbesondere in meiner Partei gebaut haben. Ohne dieses Vertrauenskapital könnte ich weder mein Land Schleswig-Holstein noch meine Partei mit derselben Unbefangenheit und dem gleichen Erfolg vertreten wie bisher. (...) Im Bewusstsein der getanen Arbeit und in der Absicht, mein Land und meine Partei davor zu bewahren, mit meinem politischen Fehler identifiziert zu werden, gebe ich mein Amt als Ministerpräsident und meine Funktionen in der SPD auf."
Presse-Stimmen zum Engholm-Rücktritt
Heckenschützen aus Bonn?
In der schleswig-holsteinischen SPD herrscht Entsetzen über Engholms Rücktritt und gleichzeitig Enttäuschung über seine Lüge. Der Kieler SPD-Fraktionschef Gert Börnsen spricht von "Wut auf Vertraute, die Engholm einen honorigen Abgang versauert haben". Denn der SPD-Chef hat bereits am 29. April seinen engsten Mitarbeitern seine Rücktrittspläne für den 3. Mai anvertraut. Doch am 30. April verbreitet der "Spiegel" in einer Vorabmeldung die Information, dass Engholm 1987 die "Wahrheit gebeugt" habe. Nun sieht es so aus, als habe der oft zögerliche Schleswig-Holsteiner mit seinem Rücktritt lediglich auf den Artikel reagiert. Früher als andere hat Engholm den Kieler SPD-Bundestagsabgeordneten Norbert Gansel eingeweiht. Daher gilt dieser nun manchen als Verräter. Andererseits vermuten viele Schleswig-Holsteiner, dass Genossen aus Bonn Informationen an die Medien gegeben haben.
Johannes Rau: In keinem Verhältnis zum Barschel-Skandal
Während es von Seiten der CDU und FDP harsche Kritik an Engholm gibt, räumt die SPD zwar den Fehler ihres Führungspolitikers ein. Sie verweist aber auch darauf, dass sich Engholms Falschaussage nicht mit den kriminellen Machenschaften Barschels vergleichen lasse. So äußert Johannes Rau, der kommissarisch den SPD-Vorsitz übernimmt, am 3. Mai in der "Süddeutschen Zeitung": Die neue Information sei zwar eine "wichtige Einzelheit", die aber "in keinem Verhältnis zum eigentlichen Skandal" um Uwe Barschel stehe.
In Anspielung auf das Fehlverhalten anderer Politiker schreibt der damalige Chefredakteur der "Frankfurter Rundschau", Roderich Reifenrath, in Bezug auf Engholms Rücktritt: "Viele andere in ähnlichen Rollen hätten solche Situationen mit breitem Grinsen ausgesessen." Vorwürfe, Engholm sei zu sensibel, habe keine Führungsqualitäten, gibt es schon länger. Im Verlauf der Schubladenaffäre werden sie erneut laut. Einige Monate nach seinem Rücktritt bekennt Engholm in einem Zeitungsinterview: "Man hat einen anderen Typ von Politiker gesucht, jemanden, der zupackt, draufschlägt. Ja, es kann schon sein, ich habe es manchmal nicht fest genug in der Hand gehabt."
Parteibasis fühlt sich hintergangen
Ein harter Schlag ist der Rücktritt für die Partei-Basis, sie fühlt sich betrogen. Noch Ende März geht Engholm auf mehreren Kreisparteitagen in Norddeutschland in die Offensive, beschwört Werte wie Ehrlichkeit und Gegenseitigkeit. Erst am 22. April gesteht der Spitzenkandidat engsten Beratern, dass er 1987 vor dem ersten Barschel-Untersuchungsausschuss gelogen hat. Inzwischen ist Engholm bewusst, dass sein Fehlverhalten nicht mehr als "Petitesse", wie er es einmal bewertete, gelten kann. Doch eine Strategie zur Lösung der Krise erarbeiten Engholm und seine Mitarbeiter nicht.
Heide Simonis wird erste Landeschefin in Deutschland
Die SPD steht nach dem Abgang ihres Hoffnungsträgers vor einer großen Herausforderung. Sie muss Ämter neu besetzen, eine neue Linie finden, Glaubwürdigkeit zurückgewinnen. Die Umfragewerte der Partei sacken rapide ab. In einer Urwahl bestimmt die SPD den rheinland-pfälzischen Regierungschef Rudolf Scharping noch im Sommer 1993 zu ihrem neuen Parteivorsitzenden. Niedersachsens Ministerpräsident Gerhard Schröder, der früh Ambitionen auf die Kanzlerkandidatur bekundet, unterliegt. Doch der Machtwechsel bei der Bundestagswahl 1994 gelingt nicht.
Heide Simonis wird neue Ministerpräsidentin in Kiel - die erste in der Bundesrepublik. Seit Jansens Rücktritt ist die Finanzministerin Stellvertreterin Engholms. Bis 2005 bleibt sie an der Spitze der schleswig-holsteinischen Landesregierung. Auch Norbert Gansel wäre gern Ministerpräsident geworden. Doch die von ihm geforderte Urwahl der Kandidaten findet im SPD-Landesvorstand keine Zustimmung. Damit ist Gansel aus dem Rennen.
Hoffnungen auf neuen Politikstil haben sich nicht erfüllt
Nach dem Rücktritt Barschels im September 1987 verkörpert Engholm die Hoffnung vieler Menschen auf eine andere, ehrlichere, an hohen moralischen Maßstäben orientierte Politik. Doch die Ereignisse und Enthüllungen des Frühjahrs 1993 zeigen, dass Anspruch und Wirklichkeit auch bei diesem Hoffnungsträger nicht übereinstimmen. Engholm selbst macht deutlich, dass er nicht mehr bereit sei, dem Druck von Öffentlichkeit und Medien standzuhalten. "Wir dürfen uns nicht wundern, wenn immer weniger kompetente Persönlichkeiten bereit sind, sich diesem Stress auszuliefern", gibt der Journalist Peter Ellgaard in einer ZDF-heute-Sendung zu bedenken. Mit dem Rücktritt des nachdenklichen Norddeutschen sind die Hoffnungen auf einen neuen Politik-Stil damals zunächst zerschlagen.