2011: Dioxinskandal erschüttert Deutschland
Anfang des Jahres 2011 erschüttert ein Dioxinskandal die Republik. Am 3. Januar kommt es zu Massentötungen von Legehennen, Zehntausende Eier werden vernichtet. Der wirtschaftliche Schaden geht in die Millionen.
Als die Firma Wulfa-Mast aus Dinklage im Landkreis Vechta im Dezember 2010 Selbstanzeige beim niedersächsischen Landesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (LAVES) erstattet, ahnen Verantwortliche in Politik, Wirtschaft und Verbraucherschutz noch nicht, welche Kreise die überhöhten Dioxinwerte, die in zwei Partien Legehennen-Futtermittel festgestellt wurden, ziehen würden. Ursache für die Kontamination ist mit Dioxin belastetes Futterfett, das bei der Herstellung von Biodiesel entsteht. Dieses Abfallprodukt darf "deklariert und beprobt" als Futtermittel verwendet werden. In diesem Fall sei das möglicherweise unterblieben, sagt der damalige Sprecher des niedersächsischen Landwirtschaftsministeriums Gert Hahne nach Bekanntwerden des Skandals.
Die Geschichte um einen der größten Lebensmittelskandale Deutschlands liest sich in der Folge wie ein Wirtschaftskrimi, in dem es um Panscherei, Vertuschung und mangelndes Verantwortungsbewusstsein von Futtermittel-Herstellern geht. Schlichtweg um kriminelles Handeln ohne Rücksicht auf das Wohl von Menschen und Tieren.
Harles und Jentzsch vertreibt verseuchtes Fütteröl
Einen Tag nach der Selbstanzeige des Futter-Produzenten Wulfa-Mast kontrolliert die niedersächsische Behörde die Lieferantenlisten - und ermittelt als Hersteller des Futteröls, das eigentlich für die Papierherstellung vorgesehen war, die Firma Harles und Jentzsch aus dem schleswig-holsteinischen Uetersen bei Itzehoe. Die Weiterverarbeitung und Auslieferung hatte die Partnerspedition Lübbe aus dem niedersächsischen Bösel übernommen.
Als das zuständige Landwirtschaftsministerium am 23. Dezember von dem Vorgang erfährt, informiert es umgehend 22 von Wulfa-Mast belieferte Betriebe - auch in Nordrhein-Westfalen - und ordnet Stichproben an. Der Verkauf der Eier aus den betroffenen Betrieben wird gestoppt.
Zehntausende Eier im Sondermüll, Hennen notgeschlachtet
Doch das verseuchte Tierfutter ist indes schon längst über die Republik verteilt, belastete Eier oder Fleisch dürften bereits auf den Tellern der Verbraucher gelandet sein. Anfang Januar 2011 werden Zehntausende Eier in Niedersachsen im Sondermüll entsorgt, auf einer Hühnerfarm im nordrhein-westfälischen Soest rund 8.000 Legehennen notgeschlachtet. Mehr als 100.000 Eier sind da bereits in den Verkauf gelangt. In Thüringen fahnden die Behörden nach Ferkeln, die mit Dioxin belastet sind. Zu diesem Zeitpunkt sind wohl schon Hunderte Tiere europaweit verkauft worden.
Razzia auch in den Geschäftsräumen der Spedition Lübbe
Die niedersächsischen und schleswig-holsteinischen Behörden arbeiten von nun an engmaschig zusammen. Durch deren schnelles Handeln kommt eine Selbstanzeige des Chemieunternehmens Harles und Jentzsch zu spät, das sich so einer Anklage entziehen wollte. Am 5. Januar durchsuchen Polizei und Staatsanwaltschaft die Firmenräume von Harles und Jentzsch, um Beweise zu sichern. Auch die Spedition Lübbe bekommt Besuch von der Staatsanwaltschaft aus Oldenburg. Hier waren die mit Dioxin belasteten Futterfette gemischt und an Schweinemäster, Geflügelhalter und Hühnerfarmen ausgeliefert worden.
Dioxin-Skandal trifft Niedersachsen am härtesten
Und die Dimensionen des Desasters nehmen immer größere Ausmaße an: Bis zu 3.000 Tonnen mit Dioxin belastetes Fett ist ins Mischfutter von Legehennen, Mastgeflügel und Schweinen gelangt. Davon geht das Bundeslandwirtschaftsministerium schon am 4. Januar aus. Insgesamt lassen sich damit bis zu 150.000 Tonnen Tierfutter anreichern. In der Folge sind 4.700 Mastbetriebe in 13 Bundesländern betroffen. Besonders hart trifft es Niedersachsen - 2.500 Tonnen verseuchtes Futtermittel ist hier im Mischfutter gelandet. 4.500 Höfe müssen vorsorglich schließen.
Illegale Machenschaften: Firmen umgehen staatlichen Kontrollen
Doch damit nicht genug: Nachforschungen ergeben, dass das verseuchte Tierfutter schon seit März 2010 in den Handel gelangt ist. Neue Stichproben im Futterfett von Harles und Jentzsch ergeben eine Giftdosis, die knapp 78 Mal so hoch ist wie erlaubt. Untersuchungen zufolge hat auch die Spedition Lübbe mit Vorsatz gehandelt und illegal die Fette gemischt - und sich so jeglicher staatlicher Kontrolle entzogen. "Der Betrieb war bei uns lediglich als Spedition registriert und nicht für das Mischen von Fetten." Dies sei strafbar, heißt es in einer Stellungnahme des LAVES. Futtermittel-Unternehmer sind laut einer EU-Verordnung seit 2005 verpflichtet, sich bei der zuständigen Futtermittel-Überwachungsbehörde zu registrieren. Wer eine Zulassung bekommt, erscheint im Bundesanzeiger des Bundesministeriums für Justiz und Verbraucherschutz. Man könne nur die Betriebe kontrollieren, die auch amtlich gemeldet sind. Wenn dies nicht geschehe, könne auch eine Panscherei nicht entdeckt werden. "Die Indizien sprechen hier im Moment eher für ein hohes Maß an krimineller Energie", so das Bundesagrarministerium Anfang Januar 2011.
Dioxin-Angst: Verbraucher kaufen keine Eier
Zwei Wochen nach Aufdeckung des Skandals sind 3.000 Betriebe wieder freigegeben, überwiegend Schweinemäster. Hühnerfarmen bleiben zunächst gesperrt. Denn noch immer gibt es neue Dioxinfunde. Deshalb lassen Verbraucher hierzulande die Ware in den Regalen liegen, der Preis für Schweinefleisch verfällt und bei vielen Familienbetrieben entstehen hohe Verluste. Auch im Ausland finden deutsche Produkte keine Abnehmer mehr. So stoppt unter anderem China den Import von Schweinefleisch und Eiern.
Trotz Dioxinfunden keine Strafverfahren gegen Harles und Jentzsch
Der Skandal deckt mehr und mehr die Schwächen des Systems auf: Es gibt zu wenige Kontrollen der rund 1.700 Futtermittel-Unternehmen in Deutschland. Und die Mühlen der Justiz mahlen langsam: Erst nach zwei Jahren erhebt die Staatsanwaltschaft Itzehoe Anklage gegen die beiden Geschäftsführer von Harles und Jentzsch - allerdings nicht wegen der Dioxinfunde, sondern "wegen Betruges und Vergehens gegen das Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch in 102 Fällen". Doch die große Strafkammer des Landgerichts Itzehoe eröffnet keine Strafverfahren - mit der Begründung, die Angeklagten hätten nichts von einer möglichen Kontamination gewusst. Eine Beschwerde der Staatsanwaltschaft wird verworfen. Einen Hoffnungsschimmer für den entstandenen Schaden gibt es nach einem Urteil des Oberlandesgericht Oldenburg im September 2013 für Legehennen-Betriebe, die Dioxin-verseuchtes Futter verfüttert hatten. So erhält ein Bauer 43.000 Euro Schadenersatz. Doch gut ein Jahr später folgt die Ernüchterung, als das Bundesverfassungsgericht das Urteil wieder kippt.
Anti-Dioxin-Plan für mehr Lebensmittelsicherheit?
Der Dioxin-Skandal zur Jahreswende 2010/11 soll nach Angaben des Deutschen Bauernverbandes einen volkswirtschaftlichen Schaden von 100 Millionen Euro verursacht haben. Doch politisch gibt es kaum Konsequenzen, sprich keine Rücktritte von Verantwortlichen in Bund und Ländern. Die damalige Regierung beschließt lediglich schärfere Futtermittel-Kontrollen und die Vorgabe, die Produktion von Futter- und Industriefett zu trennen. Außerdem dürfen künftig die Namen von Futtermittel-Betrieben schon dann genannt werden, wenn nur ein Verdacht auf eine unzulässig hohe Dioxin-Belastung besteht.
Harles und Jenztsch meldet Insolvenz an
Trotzdem dürfte das noch im Mai 2011 eröffnete Insolvenzverfahren von Harles und Jentzsch, dem Hauptverursacher des Desasters, nur ein schwacher Trost für die betroffenen Landwirte und Verbraucher gewesen sein. Noch im Jahr 2013 bemängeln Landwirte, dass Futtermittel-Betriebe immer noch keine eindeutigen Nachweise erbringen, woher die verwendeten Fette und Öle stammen. Obwohl sie eine einfache Lösung vorschlagen: eine farbliche Kennzeichnung von Industrie- und Futterfetten, wie das bei Diesel und Heizöl der Fall ist.